Der Gentleman

Bregenz, Österreich: In Vorarlberg geschehen seltsame Dinge: Betäubte Liebespaare werden am Seeufer unter mysteriösen Umständen aufgefunden. Die Situation eskaliert, als ein Rentner ein schwer verletztes Ehepaar entdeckt. Den beiden wurden Zeichen auf die Stirn eingeritzt. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Über die sozialen Medien verbreitet sich schnell der Name des Phantoms: „Der Gentleman“.

Niemand versteht, was dahinter steckt. So auch Philipp, der in der Zeitung darüber liest. Mit seiner Freundin Alice führt er ein scheinbar normales Leben. Augenscheinlich sind sie glücklich, doch hinter den Kulissen kriselt es. Es beunruhigt ihn, dass seine Partnerin an diesem Abend mit ihren Freundinnen ausgeht. Als sie am nächsten Tag nicht nach Hause kommt, wird er in eine Geschichte hineingezogen, die alles Bisherige in Frage stellt.

Leseprobe

Kapitel 1

Uferpromenade Bregenz, Freitag, 24. Juli

Marie und Johannes sitzen in einem Kaffee an der Uferpromenade in Bregenz. Sie sehen zu, wie die Sonne hinter den Bergen verschwindet, die Schwäne ihre majestätischen Flügel übers Wasser schwingen lassen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Wasser glitzern. Sie hatten das schon vor ein paar Wochen geplant, doch es war viel los in letzter Zeit: Die Kinder, der Jobwechsel, Wut, Trauer, Schmerz, alles lastet schwer auf ihren Schultern.

Er war heute einzig für Marie zum Frisör gegangen und hatte ihre gemeinsamen Söhne Lukas und David zu Maries Eltern gebracht. Mit diesem Abend will er einen Schritt auf sie zugehen, doch er weiß, dass es damit nicht getan ist.

Seine Augen liegen tief. Ihm fehlt der Schlaf, da sie in letzter Zeit immer wieder bis spät in die Nacht hinein geredet und geredet und geredet haben. Das will er auch jetzt: mit ihr reden, sie berühren, wie früher. Doch sie beobachten nur stumm die Passanten, die an ihnen vorbeihuschen: Paare, die händchenhaltend nebeneinander herschlendern, Kinder, die herumtoben.

Sie sind verheiratet, haben ein Haus, zwei Autos und müssen sich keine Sorgen um ihr Auskommen machen. Ihre Kinder sind recht brav und als gerngesehenes Paar werden sie oft zu Veranstaltungen eingeladen. Trotz des äußerlichen Glücks, das sie zu haben scheinen, sprechen sie nur das Nötigste miteinander. Die Wärme in ihrer Beziehung ist verschwunden und möglicherweise ist das alles seine Schuld.

Er wendet den Blick von den Passanten ab und widmet sich wieder Marie. Sie nippt an ihrem Getränk und sieht dabei in das Gesicht von Johannes. Sie ist gealtert. An ihrer Augenpartie haben sich vor ein paar Jahren Fältchen gebildet, die ausgeprägter geworden sind. Ihre Augen strahlen nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren. Der Gedanke, dass er sie deswegen betrogen hat, verschwindet nicht aus seinem Kopf. Möglicherweise ist es die Tatsache, dass er in manchen Augenblicken sein Leben satt hat und sie dafür bestrafen will.

Sie zieht krampfhaft ihre Mundwinkel nach oben und starrt in ihr Glas. Er hat keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. Er liebt sie immer noch, obwohl seine Libido etwas anderes sagt. Sie, Ende dreißig, in den besten Jahren, hat ihm ihr halbes Leben geopfert. Sie war voller Tatendrang, als er sie kennengelernt hat, doch jetzt sitzt sie vor ihm wie eine Fremde: schlank, abgemagert, ihr Blick vom Glas zum Boden gleitend. Mit verschränkten Armen sitzt sie da und misst ihn mit Augen einem Eisblock gleich.

Es ist schwierig, seitdem die Affäre mit seiner Kollegin aufgeflogen ist. Nach einem Streit ist es aus ihm herausgeplatzt. Er hat sie beschuldigt, ein Verhältnis mit einem anderen zu haben, da sie sich mehr um sich selbst gekümmert hat als um ihn. Er hatte vor, ihr Schmerz zuzufügen, sie für etwas zu bestrafen, das sie nie getan hat. Am Ende war es eine Ausrede dafür, dass er es in seinem Leben nicht mehr ausgehalten hat.

Nachdem er ihr alles vor drei Wochen gestanden hatte, verlangte sie nach jeder Einzelheit, sodass er dachte, ihr Selbst breche in winzige Stücke. Aber alles, was sie tat, war dazusitzen, auf den Teppichboden zu starren und hemmungslos zu weinen. Als er ihr seine Affäre gestand, verschwand sie, kam aber zwei Tage danach wieder zurück und blieb bei ihm. „Für die Kinder“, sagte sie, „nur für die Kinder, dass wenigstens sie nicht leiden müssen.“ Seitdem breitet sich Kälte zwischen ihnen aus, lässt ihre Beziehung erkalten und sie beide Stück um Stück auseinanderdriften.

Er deutet auf die Schwäne, die es sich auf einer naheliegenden Wiese bequem machen.

„Schön, oder?“, ist sein lapidarer Kommentar, den sie mit einem Lächeln quittiert. Er starrt auf den Boden, lässt seinen Blick über einzelne Kieselsteine gleiten und überlegt Themen, über die sie sich früher gerne unterhielten: Musik, Theater, Partys, die sie besucht hatten. Doch egal, was ihm in den Sinn kommt, er hat Angst, sie nicht aus ihrer Apathie lösen zu können.

„Wollen Rose kaufen?“, schreckt ihn ein Blumenverkäufer aus seinen Gedanken. Er will seine Wut an dem Mann auslassen, der seine Blumen erst ihm und dann Marie ins Gesicht hält. Doch er beherrscht sich, ja, er kauft ihm sogar eine Rose ab und gibt sie Marie.

„Wie bei unserem ersten Date, weißt du noch?“

Sie nickt, blickt ihn an und er beobachtet, wie sich in ihren Augen Wasser sammelt. Sie schließt den Mund und atmet durch ihre Nase. „Lass uns austrinken und nach Hause gehen“, meint sie und umklammert die Rose so heftig, dass Blut am Stil herunterfließt und auf ihren nachtblauen Rock tropft. Johannes zieht sofort sein weißes Taschentuch hervor und reicht es ihr. Sie greift danach, wischt sich das Blut ab und gibt es ihm zurück. Er presst die Lippen aufeinander und sieht auf das befleckte Taschentuch. Als er es in seinen Händen hält, schießen ihm Erinnerungen an ihr erstes Date durch den Kopf. Da erkennt er, in welchem Zustand sich ihre Beziehung befindet.

Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geweint hat, und das auch noch in der Öffentlichkeit. Er kämpft mit den Tränen. Er hat Angst, dass ihn jemand sieht, doch es bleiben lediglich ein paar Passanten verdutzt stehen, um gleich darauf wieder weiterzugehen.

„Es tut mir leid, dass ich alles kaputt gemacht habe.“

Er will nicht mehr den unerschütterlichen Fels vorspielen. Er kann nicht mehr so tun, als ob ihm alles egal sei. Er verzehrt sich nach ihr, will alles auf sich nehmen, um sie wieder für sich zu gewinnen.

Marie hört unterdessen auf zu weinen, sie scheint zufrieden. Sie setzt ihr Glas an, trinkt es in einem Zug aus. Ein Zeichen zu gehen. Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Er hat ihren gemeinsamen Abend zerstört. Doch was soll zwischen ihnen beiden noch kaputtgehen? Ihre Beziehung liegt bereits in Scherben.

Auch er leert sein Glas und sie stehen auf. Er wischt verstohlen seine Tränen aus den Augen und Marie kommt zu ihm, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn und ergreift seine Hand. Er atmet kurz und heftig und blickt in ihre Augen, aus denen die Tränen verschwunden sind. Er hat es nicht verdient.

„Lass uns einfach ein Stück gehen, und wenn wir zuhause sind, vergessen wir die Vergangenheit.“

Johannes nickt, ihm steigen erneut Tränen in die Augen. Marie wischt sie mit bloßen Händen weg.

„Du bist so ein Idiot, weißt du das. Aber ich liebe dich noch immer. Ich kann dir vielleicht nicht sofort verzeihen, aber jeden Tag wird es ein Stückchen leichter.“

Sie drückt ihm einen Kuss auf die Lippen, der ihn an den vor über 20 Jahren erinnert. Er lächelt sie an und traut sich, seine Hand um ihre Hüfte zu legen.

Sie entfernen sich, ohne zu ahnen, dass ihnen jemand folgt. Jemand, der sie die ganze Zeit beobachtet hat, wie sie dort am Tisch saßen. Der Mann, der ihnen zuvor die Rosen unter die Nase hielt, wirft sie jetzt in einen Mülleimer. Zwischen den Stilen der Blumen ragt ein langer, dünner Schlauch hervor, den er samt dazugehörigem Fläschchen in seine Jackentasche steckt.

Marie und Johannes schlendern die von Menschen bevölkerte Uferpromenade entlang, vorbei an der Baumallee. Ihr Verfolger taucht in der Menschenmasse unter. Er tut es den beiden gleich, die zunehmend ziellos am Wasser entlang bummeln. Als sie nach einigen hundert Metern in Richtung Stadt abbiegen, bietet sich ein Fremder, der sich als Taxifahrer ausgibt, an, sie nach Haus zu bringen. Sie sind überzeugt, das Richtige zu tun. Deshalb wehren sie sich nicht und die Passanten in unmittelbarer Nähe ignorieren sie.

Der Fremde schiebt sie in einen Skoda Kombi. Er sieht sich noch einmal um, niemand scheint Verdacht zu schöpfen. Ein Glücksgefühl strömt durch seinen Körper und er lächelt innerlich, als er seine zwei Fahrgäste, die mit halboffenen Augen auf dem Rücksitz sitzen, begutachtet. Die Wirkung der Tropfen, die er den beiden in ihre Gläser geschüttet hat, als er ihnen die Rosen unter die Nase hielt, entfalten nun ihre Wirkung.

Marie und Johannes lallen Unverständliches, das ihn nicht weiter interessiert. Er sagt lediglich dienstbeflissen: „Nach Hause, kommt sofort.“ Dann startet er den Motor. Johannes erwähnt den Namen einer Straße in Bregenz und hebt seine Hand, um dem Fahrer den Weg zu weisen. Doch der fährt nicht in die geforderte Richtung, nein, er hat anderes im Sinn und gerade erst damit begonnen.

Kapitel 2

Artikel in den VN, Donnerstag, 14. Mai

 Zwei weitere Opfer im Raum Bregenz

 K.O.-Drinks am Bodensee.

Zum dritten Mal in Folge wurden zwei Personen bewusstlos aufgefunden. In der Nacht auf den 12.05. wurde ein betäubtes Paar in der Nähe des Seeufers in Bregenz entdeckt. Die Kleider der beiden vertauscht, die Opfer erinnern sich an nichts.

Über Einzelheiten ist noch nichts bekannt! Wie der örtliche Polizeisprecher mitteilte, gehe man davon aus, dass es sich um denselben Täter wie bei den vorangegangenen Fällen handle. Die Polizei mahnt die Bevölkerung zur Vorsicht und bittet um Hinweise.

Kapitel 3

Lochau Hafen, Dienstag, 28. Juli

 „Diese Leute heutzutage“, flucht Hubert, der über herumliegende Glasflaschen stolpert. Er stapft am Ufer des Sees entlang, ein Bein vor das andere setzend. Er geht gerne am Morgen hinaus, da es nicht so heiß ist und die Menschenmassen, die sich im Laufe des Tages am Ufer ansammeln, ausbleiben. Er kickt die Glasscherben mit einem Fuß über die Steine und merkt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt. Er spürt ein Stechen in seiner linken Seite. Noch ein Jahr zuvor durchlief er seine morgendliche Route ohne Atemnot und ohne nerviges Stechen, doch seit einem Jahr geht es stetig bergab mit ihm. Ein Jahr, nachdem seine Frau Edith gestorben ist, spürt er mit jedem weiteren morgendlichen Ausgang, wie es ihn zu seiner Frau zieht. Das Einzige, was ihm geblieben ist, ist der sabbernde Hund Frodo.

Hubert sieht auf und will ihn rufen. Doch das Tier bleibt verschwunden. Hubert kneift die Augen zusammen, legt sich die Hand an die Stirn, aber er erkennt nichts. „Dummer Köter“, geht es ihm durch den Kopf. Er stapft zu der Stelle, an der er Frodo das letzte Mal gesehen hat. Nichts. „Wo ist dieser verdammte Kläffer?“ Da hört er ein Bellen, das mit jeder Sekunde lauter wird. Etwas springt ihn von hinten an und bringt ihn aus dem Gleichgewicht. „Da bist du ja.“

Er atmet auf. Auf den Stress, seinem Hund hinterherzurennen, kann er getrost verzichten. Er zieht seine Hände von ihm weg. Etwas Warmes klebt an ihnen. Es fühlt sich anders an als der Schleim, den der Hund sonst absondert. Hubert hält seine Hände vor seine Augen, ein Schreck durchfährt ihn. Blut, denkt er. Blut, das frisch ist. Er holt tief Luft. Für einen Augenblick befürchtet er umzukippen. Er stützt sich an einer Bank ab, blickt zu Frodo und erkennt, dass dessen Schnauze in Blut getränkt ist. „Was hast du jetzt schon wieder für Dreck gefressen?“

Ehe Hubert seine Frage stellen kann, rennt der Hund davon, um seine Erkundungstour fortzusetzen. „Wirst du wohl wieder herkommen!“, schreit sein Besitzer ihm nach, aber das Tier verschwindet hinter den nahen Büschen. „Auch das noch, jetzt kann ich ihm wieder hinterherrennen. Ich bin einfach zu alt für so etwas.“ Er bahnt sich seinen Weg durch die Büsche, bleibt an einem Ast hängen, reißt sich los, geht ein paar Schritte weiter und entdeckt Frodo, der an zwei an einen Pfahl gefesselten Menschen schnüffelt.

Hubert ringt um Luft, seine linke Seite schmerzt. Er tritt näher an das Paar heran, seine Augen weiten sich. Seine Beine werden weich. Er stolpert, ein Schrei entkommt seiner Kehle. Er erkennt eine Frau, die in einen Anzug gehüllt mit hängenden Gliedmaßen dasitzt. Ihr Kopf schaukelt von einer zur anderen Seite. Die Augenlider bewegen sich, ihr Grinsen sieht aus, als wäre es mit Nadeln an den Wangen fixiert. Er reibt seine Augen, erkennt, dass die andere Person, ein Mann, nackt ist. Frodo schnüffelt und schleckt an dessen Hand. Als Hubert näherkommt, erkennt er einen fleischigen Klumpen in der Hand des Mannes. Genitalien.

Hubert zuckt. Sekunden später übergibt er sich. Er zittert und zieht seine Jacke zu. „Ruhig bleiben“, mahnt er sich. Er fingert mit seinen zitternden Händen eine Brille hervor, die er auf seine Nase setzt. Jetzt übergibt er sich ein zweites Mal. Er sieht sich um. Niemand außer ihm und seinem Hund, der immer noch an den Genitalien des Mannes schleckt. Er würgt ein weiteres Mal, doch da ist nichts mehr, was aus seinem Magen schießen könnte. Er zwingt sich, noch einmal hinzusehen.

Der Mann lebt, dasselbe Grinsen im Gesicht wie die Frau. Im Mund einen Gegenstand, der wie eine Geldbörse aussieht. Hubert kann seinen Blick nicht abwenden. Neugier überwiegt das Grauen. Er tritt näher an das Paar heran. Wo einst die Geschlechtsteile des Mannes waren, klafft eine Fleischwunde, vor der sich eine Blutlache gebildet hat. Über ihnen am Pfahl entdeckt er ein Schild. Er kneift seine Augen zusammen, um die Schrift zu entziffern: Gerechtigkeit.

Hubert schnippt mit seinen Fingern vor ihren Gesichtern, sie reagieren nicht, grinsen nur. Jetzt erkennt er, dass der Mann ein Messer mit seiner rechten Hand umklammert. Huberts Beine geben nach, sein Herz schlägt bis zum Hals, als er einen weiteren Schriftzug am Kopf des Mannes wahrnimmt: Jäger.

Er tritt zurück, ringt nach Luft, sucht sein Smartphone. Es liegt zu Hause. Er dreht sich um, will verschwinden, stolpert zurück durch die Büsche. Ein Jogger kommt auf ihn zu. „Alles okay?“, fragt er. Huberts Herz pocht. Er merkt, dass jemand mit dem Jogger spricht. Inzwischen ist er derjenige, der hektisch und ohne einen Punkt auf den Sportler einredet. Er presst heraus: „Da hinten, zwei Menschen, Blut, jede Menge Blut, Polizei, Notarzt.“

 

Kapitel 4

Wohnung von Philipp, Lochau-Tannenbach, Freitag, 31. Juli

 Mann bestialisch gefoltert und getötet

 Ein unbekannter Gewaltverbrecher, in den Sozialen Netzwerken „Gentleman“ genannt, vergeht sich an weiteren Opfern und schreckt auch vor Mord nicht zurück.

Beschränkten sich die bisherigen Verbrechen des Gentleman lediglich auf die Betäubung und die Vertauschung der Kleider seiner Opfer, so ist er vorgestern einen Schritt weiter gegangen. Der Pensionist Hubert K. entdeckte am Dienstagmorgen ein weiteres Paar gefesselt an einem Pfahl am Bregenzer Bodenseeufer. Am Körper der beiden war ein Schild mit der Aufschrift „Gerechtigkeit“ befestigt.

Dem Mann waren die Genitalien entfernt worden. Aufgrund des Blutverlustes erlag er noch auf dem Weg ins Krankenhaus seinen Verletzungen. Die Ehefrau, die seinen Anzug trug, hat überlebt, aber keine Erinnerung an den Tathergang.

Noch ist unklar, ob zwischen den vorhergegangenen Fällen eine Verbindung besteht. Die Ermittler vermuten jedoch, dass es sich um denselben Täter handelt, der seit Anfang Mai im Raum Bregenz sein Unwesen treibt.

Die Polizei bittet um Hinweise und mahnt die Bevölkerung zur Vorsicht.

 

Philipp wirft einen Blick aus dem Fenster. Mit jedem Verbrechen steigert sich dieser Täter. Was noch viel absurder ist, ist sein Name, der im Netz kursiert: Gentleman. Wegen der Umkehrung der Werte in unserer heutigen Gesellschaft sei er der Beschützer der Frauen, so die Vermutung. Wie es zu dieser Vorstellung kommen konnte? Nach dem letzten Vorfall habe allein der Mann schwere Verletzungen davongetragen. Philipp kann sich nicht mehr an den Spinner erinnern, der das geschrieben hat. Er würde sich nicht wundern, wenn der Verrückte solche Gerüchte selbst verbreitet. In den Sozialen Medien stürzten sich die Leute jedenfalls darauf. Man gab dem Bösen einen Namen, auch wenn es – noch – kein Gesicht dazu gibt.

Er findet es jedenfalls geschmacklos. Sein Blick fällt wieder auf die Zeitung. Und der Verrückte läuft immer noch frei herum, denkt er. Er schüttelt den Kopf, steht auf und begibt sich zur Kaffeemaschine. Er nimmt das Sieb, mahlt die Kaffeebohnen, presst das Pulver, spannt das Sieb ein und öffnet den Hebel für das heiße Wasser. Die Maschine brummt und füllt die Tasse mit Espresso. Der Raum duftet nach Kaffee.

Philipp setzt sich wieder an den Tisch, rührt das Getränk um und nimmt einen Schluck, als sich die Tür öffnet. Herein tritt Alice, die sich zu ihm an den Tisch setzt und mit ihrem Smartphone ein paar Fotos inszeniert: von ihrem Frühstück, von sich und dem Frühstück und dann wieder von sich. Sie hat das strahlende Lächeln aufgesetzt, das er früher so oft bei ihr gesehen hat. In letzter Zeit lächelt sie jedoch allein für die Kamera. Er blickt in ihre grünen Augen. In diesem Moment registriert er, wie sie ihren Blick zu Boden senkt und sich ihre Schultern versteifen. Sie legt ihr Telefon zur Seite und widmet sich dem Joghurt mit Heidelbeeren. Ihre Augen huschen im Sekundentakt von der Schüssel zum Smartphone, manchmal zu ihm. Er erinnert sich an den Anfang ihrer Beziehung, als er Fotos für sie geschossen hat. Damals tat er es aus Liebe, doch mit der Zeit laugte es ihn aus. Irgendwann hatten sich die Bilder zu einer Sucht gewandelt, die sie über alles andere stellte.

„Was machst du?“, fragt sie ihn.

„Ach, nur die neusten Nachrichten lesen zu dem Typ, den alle den Gentleman nennen.“

Sie blickt auf die Zeitung, dann in seine Augen. „Wieso machst du das?“

„Weil ich wissen will, was da abgeht.“

„Manchmal ist es besser, nicht so viel zu wissen, sonst macht man sich nur verrückt.“ Sie fixiert ihn, doch es ist nicht ihr Blick, den sie ihm früher zugeworfen hatte. In ihm liegt nichts Liebevolles mehr. Philipp spürt das und senkt seine Augen wieder auf den Artikel vor sich.

„Übrigens, ich gehe heute mit meinen Freundinnen aus, vielleicht ins Viva, mal schauen. Also warte nicht auf mich.“

Nach dem, was da draußen los ist, willst du in eine Bar?, denkt er und atmet tief durch. Stattdessen antwortet er: „Freut mich für dich.“

„Ja, mal wieder höchste Zeit, alle zu sehen, nur wir Mädels unter uns.“

„Mhm“, gibt er sich wortkarg und folgt mit seinen Augen ihrem Löffel, der sich in ihrer Hand zum Mund bewegt. Ihre glatten braunen Haare hat sie hinter die Ohren geklemmt. Im Hintergrund ertönt ein Song im Radio, dessen Namen er nicht kennt, aber gegen den er einen unterschwelligen Hass entwickelt hat. Am liebsten würde er das Gerät zu Boden werfen und in winzige Teile zertrümmern. Doch er beruhigt sich.

Alice legt das Besteck zur Seite, blickt auf die Uhr ihres Smartphones und kontrolliert das Make-up. Danach gibt sie Philipp einen flüchtigen Kuss und stolziert vom Esstisch in den Flur. Mit den Worten „Vergiss nicht, du musst noch meine Story liken“ dreht sie sich um und lässt ihr Haar über die Schultern fallen. Philipp nickt und schickt ein „Bis heute Nacht dann“ hinterher. Kurz darauf fällt die Wohnungstür ins Schloss. Wie aus der Ferne betrachtet er seine Hände, die die Zeitung in einen unschönen Klumpen verwandelt haben.

Alice ist schön. Wie sie ihr Haar im Gehen nach hinten wirft, wie ihre grünen Augen im Licht strahlen. Anfangs hat es sich leicht und unbeschwert angefühlt, vor allem, dass ihm durch sie die Aufmerksamkeit anderer Männer sicher war. Das war von Anfang an das Beste und ist es heute noch, aber in letzter Zeit bleibt ein seltsamer Nachgeschmack, den er nicht mehr los wird. Sie treibt Sport, bleicht sich die Zähne und kontrolliert täglich ihr Gewicht. Am Anfang hat er das anziehend gefunden, doch in letzter Zeit wird dieses Gehabe immer extremer. Die Fotos, die Aufmerksamkeit anderer, all das lässt sie ihm entgleiten. Ihre Individualität verwandelt sich in eine massentaugliche Oberfläche, hinter die sie ihn keinen Blick mehr werfen lässt.

Letztendlich begnügt er sich mit dem Gedanken an ihren straffen Körper, ihren Hüftschwung. Er stürzt seinen Espresso, der mittlerweile kalt und bitter schmeckt, hinunter. Das Gefühl, dass sich ihre Beziehung verändert, lässt ihn nach dem Frühstück nicht mehr los. Er stößt einen Seufzer aus, wirft sich sein Sakko über und schlüpft in seine Budapester. Ehe er zur Arbeit eilt, blickt er in den Spiegel, der vor der Eingangstür hängt. Er mustert sein Gegenüber, setzt ein mechanisches Grinsen auf und öffnet die Tür, um sich auf den Weg ins Büro zu machen.

Kapitel 5

Viva Bregenz, Freitag, 31. Juli auf Samstag, 1. August

 Alice begutachtet ihr gerade aufgenommenes Bild, auf dem sie mit Chiara und Sandra abgebildet ist. Sie lädt es auf Instagram hoch, als sich vier Männer ihrem Tisch nähern.

„Was geht?“, fragt einer von ihnen und grinst sie an. Sie lächeln, und ohne eine Reaktion abzuwarten, setzten sich die vier zu ihnen an den Tisch. Im ersten Moment hört sie nicht zu. Sie will sie wieder vertreiben, aber bewundert deren Mut. Ein bisschen Unterhaltung schadet nicht.

Die vier rattern ihre Namen herunter, die alle ähnlich klingen. Sie hat keine Lust, sie sich zu merken, und anstatt nachzufragen setzt sie einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, als würde sie die Situation nicht sonderlich interessieren. Unbehagen breitet sich aus, das aber nach einem großen Schluck ihres Gins verschwindet. Die vier Männer drängen sich derweil näher zur Gruppe. Chiara und Sandra sind Single, also spielt sie eben mit. Dass zuhause ihr Freund sitzt, erwähnt sie mit keinem Wort, sondern klammert sich an ihr Getränk.

Der Größte aus der Gruppe scheint der Sprecher zu sein. Er ist auch derjenige, der die ersten Worte mit ihnen wechselt. Auf seinem Arm erkennt sie ein verwaschenes Tribal Tattoo, das er vor seinem Körper präsentiert. „Wir geben euch ´ne Runde aus, Mädels“, verkündet er, indem er dem Barkeeper zuwinkt. Sie und ihre Freundinnen nicken und lächeln dabei. Einer der Männer, der die ganze Zeit mit seinem silbernen Kreuz spielt, das über seinem engen Shirt baumelt, prostet ihr zu. Sie presst ihre Lippen aufeinander und denkt: Wirklich, das soll der Einzige sein, der mir zuzwinkert heute?

Die andern drei hingegen hängen an den Lippen von Chiara und Sandra, die über die Wichtigkeit von Sexualität in der Beziehung philosophieren. Nicht mehr lange und sie werden anfangen zu sabbern, denkt sie. Sie ist normalerweise diejenige, die im Mittelpunkt steht, aber seit sie mit Philipp zusammen ist, hat sich ihre Anziehungskraft auf andere Männer spürbar verringert.

Als der Kellner mit einem Tablett zurückkehrt, winkt er noch jemandem an der Bar zu und stellt die Drinks auf den Tisch. Mit einem Grinsen richtet er sich an Alice und fragt: „Na, mit Philipp alles okay? Hab ihn schon länger nicht mehr gesehen“, dann wendet er sich ab. Ihr wird warm. Röte steigt ihr ins Gesicht. Harri, den Bruder von Philipp, hat sie übersehen. Die beiden Typen neben ihr lächeln, als sie ihre Unsicherheit bemerken.

„Wer ist denn Philipp? Dein Freund?“

Die Hitze in ihr steigt weiter auf, als sie sich rettet und antwortet: „Nein, mein Bro.“ Da nicken die beiden und stoßen mit ihr an. Jetzt können die zwei ihre Blicke nicht mehr von ihr lassen. Aus irgendeinem Grund rücken sie näher an sie heran. Sie bombardieren sie mit Standardfragen, die sie langweilen. Sie schüttelt mechanisch ihren Kopf und versucht sich auf das Gespräch mit ihnen einzulassen. Die Männer haben nur eines im Sinn, das erkennt sie, als sie den Blick auf ihre Brüste wahrnimmt.

Nach ein paar Minuten erfasst sie unerwartete Euphorie. Sie scherzt, sagt den Männern, wie witzig sie doch seien. Sie strahlen, und einer von ihnen, sie glaubt, sich an den Namen Angelo zu erinnern, stößt seinen Kumpel an und zieht seine Augenbrauen nach oben. Kurz danach erfasst sie ein seltsames Gefühl, die Euphorie geht in einem Meer von kleinen schwarzen Punkten unter.

„Hey Mädels, habt ihr Bock mit uns ins Artemis zu gehen? Getränke gehen natürlich auf uns“, verkündet der mit dem Tattoo. Die übrigen drei nicken. Alice denkt nicht mehr ans Trinken. Ein plötzlicher Drang, sich auf den Heimweg zu machen, kommt in ihr auf. Sie gibt ihren Freundinnen ein Zeichen, und als sie auf dem WC sind, beginnen die beiden zu lachen und kichern, ohne Alice zu Wort kommen zu lassen.

„Die sind so süß, hast du den Großen gesehen, wie er mich die ganze Zeit ansieht? Oh Mann, ich liebe sein Tattoo.“

„Ich weiß. Und jetzt wollen sie uns auch noch einladen, wie geil ist das bitte, gratis Drinks den ganzen Abend. Manche sind schon echt blöd.“ Sandra fuchtelt mit ihren Händen und klopft Chiara auf die Schulter.

„Du kommst doch mit ins Artemis, Süße?“

Alice, die sich mit einer Hand an einem Waschbecken festhält, schließt die Augen und reißt sie wieder auf in der Hoffnung, die Punkte in ihrem Sichtfeld zu vertreiben. Für einen kurzen Moment ist das auch so und sie entspannt sich wieder, doch ihr Schwindel hält an. „Nein, geht ihr mal allein, ich fühl mich nicht so gut.“

„Ach, komm schon, wir haben doch gesehen, wie zwei von denen voll auf dich abfahren, und wenn es nur für die Drinks ist. Für uns, bitte.“

„Nein, wirklich nicht, mir geht´s gerade echt beschissen.“

Chiara tritt an sie heran und legt ihr die Hand auf die Stirn. „Hm, du fühlst dich etwas warm an und siehst gerade echt nicht so gut aus, was ist denn los? Hast du vorhin zu viel getrunken?“

„Keine Ahnung, eigentlich nicht, halt wie immer.“

„Sollen wir dir ein Taxi rufen?“

„Lasst mal, ich laufe nach Hause, vielleicht geht´s mir dann wieder besser.“

Ihre Freundinnen sehen sich an und fokussieren dann wieder Alice. „Okay, aber pass auf dich auf, Kleines.“

Danach kontrollieren sie ihr Gesicht im Spiegel und treten durch die Tür. Alice sieht noch, wie die Truppe aus der Bar stolziert. Chiara und Sandra winken ihr zu, doch in diesem Moment steigen erneut die schwarzen Punkte vor ihren Augen auf.

 

Kapitel 6

Pipeline Bregenz, Freitag, 31. Juli auf Samstag, 1. August

 Alice geht unsicher am Bodenseeufer entlang. Das Rauschen des Sees ist mit ihr und der Mond erleuchtet den Himmel. Sie starrt auf ihr Smartphone und sieht den Beitrag, den sie in der Bar gepostet hat. Sie erkennt nur das Bild, die Likes darunter nicht. Sie kneift ihre Augen zu, aber es hilft nicht. Sie sieht alles verschwommen wie durch Milchglas. So viel hatte ich auch wieder nicht, denkt sie und wischt weiter über ihrem Bildschirm.

Sie geht der Promenade entlang. Kein Mensch ist zu sehen. Die Straßenlaternen spenden Licht, das kleine Kegel auf den Asphalt streut. Sie folgt wie in Trance den lichterfüllten Inseln, die abrupt enden. Sie sieht hinauf zum Mond und schwankt immer heftiger hin und her. Sie blickt auf ihr Smartphone, das sich im Energiesparmodus befindet. „Beschissenes Ding“, schimpft sie, als der Bildschirm sich verabschiedet. Jetzt ist sie allein.

Sie fürchtet sich vor dem Alleinsein. Nicht davor, dass sie zu wenig Likes bekommt, sondern vor ihren eigenen Gedanken, die ihr sagen, dass sie nicht gut genug ist. Nie war etwas genug, obwohl sie doch eigentlich zufrieden sein müsste. Sie hat einen guten Job bei der Bank, einen gutaussehenden Freund, der finanziell abgesichert ist und sie vergöttert, doch trotz alldem fühlt sie sich leer und ausgelaugt. Sicher, sie liebt ihren Bürojob nicht. Im Grunde wünscht sie sich ein Leben als Influencerin. Den ganzen Tag Bilder posten, für Produkte werben, für Reisen in Luxushotels bezahlt zu werden und in Dubai zu leben, dort, wo ihre Vorbilder sind. Tief im Innern strebt sie nach einem Leben, in dem sie sich weder verloren noch verlassen fühlt und so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie ihr zusteht. Doch immer, wenn sie kurz davor ist, sich dafür zu entscheiden, erfasst sie Panik. Zurück bleibt ein verletzter Mensch, der sich hässlich und abstoßend findet. In diesen Momenten sinkt sie tiefer in den grauen See aus Gedanken, in dem sie feststeckt.

Alice bleibt stehen und hält sich an dem Geländer fest, das den Weg vom See abtrennt. Sie versucht, nicht umzukippen, als sie ins Wasser sieht. Im Mondschein erkennt sie ihre Silhouette. Am liebsten würde sie sich jetzt selbst geißeln, doch das macht es auch nicht besser. Sie wiederholt die Worte, dass sich alles ändert, wenn sie endlich genug Follower hat. Sie muss an sich arbeiten: schöner, schlanker, makelloser werden, dann kann sie ihrem momentanen Leben den Rücken kehren. Ihre Gedanken gehen zum morgigen Tag, an dem sie mit Philipp eine neue Couch aussuchen will. Bei diesem Gedanken schnürt es ihr den Hals zu. Das Atmen fällt ihr schwer. Am liebsten würde sie in den See springen, zu einer tiefen Stelle schwimmen, und sich fallen lassen.

Fünfhundert Meter zu Philipps Wohnung. Sie nimmt die erste Stufe der Treppe, die über den Bahnsteig führt. Es fällt ihr immer schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzten. Ihr Magen rebelliert, sie versucht, zu schlucken. Peinlich, wenn sie so jemand sähe. Doch da ist niemand. Die Lichter sind erloschen, die Straßen leer. Es ist Samstag, zwei Uhr. Für manche ist die Nacht noch jung, aber nicht hier. Das Einzige, was zu hören ist, ist ein sich näherndes Fahrzeug.

Alice torkelt über die Straße, registriert einen VW Bus und senkt ihren Blick. Neben ihr stottert der blaue Bus, sie hebt ihren Kopf, das Gefährt verschwimmt vor ihren Augen, und als das Fenster herunterfährt, erkennt sie Philipps Gesicht hinter dem Steuer. Sie murmelt etwas,  das wie „Ich liebe dich“ klingen soll. Die Tür springt auf, sie steigt ein. Was für ein Glück, dass Philipp aufgetaucht ist, den restlichen Weg hätte sie nie und nimmer geschafft.

Sie sieht die Abzweigung kommen, die zu ihrer Wohnung führt, aber er biegt nicht ab. Er fährt weiter und lässt das Ortsschild mit der Aufschrift Lochau-Tannenbach hinter sich. Vor Alice Augen verschwimmt alles, ihr wird schwindelig, sie kann sich nicht mehr bewegen. „Wohin fahren wir?“ Er reagiert nicht. Sie versucht es noch einmal. „Philipp, wohin fahren wir? Ich möchte nach Hause.“ Wieder nichts.

Letztendlich registriert sie, dass sie ihre Lippen nicht mehr bewegen kann, dass alles nur in ihrem Kopf stattfindet und sie kein einziges Wort herausbekommt. Sie gleitet nach und nach in einen Zustand, in dem sich die Straße nicht mehr von der Umgebung unterscheidet. Alles vermischt sich zu einem Chaos.

Kapitel 7

Wohnung von Philipp, Lochau-Tannenbach, Samstag, 1. August

Ein schriller Ton dringt an Philipps Ohr. Er greift nach seinem Handy und blickt neben sich. Die andere Seite des Bettes ist leer. Er reibt sich die Augen, sieht nochmals genauer hin. Niemand da.

Er schaltet den Alarmton seines Smartphones ab und richtet sich auf. Es ist halb sieben. Auf Zehenspitzen schleicht er durch den Flur ins Wohnzimmer. Manchmal, wenn sie spät nach Hause kommt, schläft sie auf dem Sofa, um ihn nicht zu wecken, obwohl er ihr gesagt hat, dass es ihm egal sei. Doch auch die Couch ist leer. Er beginnt sich Sorgen zu machen. Er zieht die Rollläden hoch, setzt sich auf das Sofa und blickt erneut auf sein Smartphone. Keine neue Nachricht.

Es ist erst kurz nach halb sieben, möglicherweise noch zu früh. Ja, das wird es sein, sie sind bestimmt noch ins Artemis gegangen und das öffnet erst kurz vor elf. Wenn es dann um halb zwei richtig losgeht, möchte man noch bleiben. Er kennt das. Dann kann es schnell sechs oder sieben Uhr werden.

Er steht auf, trinkt einen Espresso. Dann legt er sich auf die Couch, schaltet den Fernseher ein und zappt durch die Programme. So vergehen knapp zwei Stunden, in denen er immer wieder auf die Uhr blickt, bis es halb neun ist und er sich kurzerhand entschließt, ins Fitnessstudio zu gehen. Er will heute mit ihr in ein Möbelhaus fahren, um eine neue Couch auszusuchen. Ein ganz normaler Samstagvormittag, auf den er sich schon gefreut hat. Doch der Ausflug wird mit jeder Minute, in der sie nicht da ist, unwahrscheinlicher. Er hat das Warten satt, am liebsten würde er sie anrufen, anstatt zu trainieren. Aber er fürchtet, dass er sie noch weiter von sich wegtreibt, wenn er sich ihr aufdrängt. Er packt seine Sporttasche und begibt sich auf den Weg ins Studio. Weitere zwei Stunden vergehen.

Als er nach seinem Training den Wohnungsschlüssel in die Tür steckt, pocht sein Herz. Er dreht den Schlüssel um, hält inne und lauscht. Nichts. Langsam bekommt er ein ganz schlechtes Gefühl. Er wirft seine Sporttasche achtlos auf den Boden und späht in jeden der Räume. Nichts. Die Sorgen werden von Sekunde zu Sekunde größer. Ganz ruhig, denkt er und sieht erneut auf sein Smartphone. Immer noch keine Nachricht von ihr. Er ringt kurz mit sich, aber da es schon halb elf ist, ruft er ihr Instagram-Profil auf. Das letzte hochgeladene Bild zeigt Alice mit Chiara und Sandra, die mit ihren Getränken im Viva um einem Tisch sitzen. Schließlich entscheidet er sich, ihr eine Nachricht zu schicken: „Wo bist du, wir wollten doch längst los.“

Er stellt sich unter die Dusche, als er das Wasser aufdreht, vibriert sein Smartphone. Endlich. Eine Antwort von Alice. „Hey Philipp, sorry, dass ich erst jetzt schreibe. Aber es muss sein: Ich brauche ein bisschen Abstand. Bin für ein paar Tage bei meinen Eltern. Bitte schreib mir nicht und ruf auch nicht an, ich brauche die Zeit für mich, um über uns nachzudenken. Danke.“

Er liest die Nachricht wieder und wieder. Er kann kaum glauben, was er liest. Für einen Moment kommt es ihm surreal vor. Klar, sie haben sich voneinander entfernt, aber warum so plötzlich, warum per Nachricht, warum eine Pause, warum jetzt?

Er setzt sich in die Dusche. Der Schmerz durchfährt seinen Körper. Wut baut sich auf. Er muss sich zusammenreißen, nicht sein Handy gegen die Fließen zu schmettern. Die Nachricht brennt sich in sein Hirn. Er steht benommen auf und lässt Wasser über seinen Kopf rinnen, in der Hoffnung, dass das Stechen in seinem Innern aufhört.

Nach der Dusche geht er zum Kühlschrank, öffnet ein Bier und setzt sich auf das Sofa. Er kann heute nicht allein sein, sonst wird er verrückt. Er greift nach seinem Smartphone und liest die Nachricht zum x-ten Mal. Der Schmerz treibt ihm Tränen in die Augen.

Er trinkt die Flasche in zwei Zügen leer. Er wartet auf das warme Gefühl, das ihn heute im Stich lässt. Alles, was er fühlt, ist Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitet. Er öffnet eine neue Nachricht und schreibt seinem besten Freund Mark, um heute Abend ein Treffen mit ihm zu vereinbaren.

 

Kapitel 8

Lust Bar Bregenz, Samstag, 1. August

 Zigarettenqualm, der wie eine Wand vor der Bar steht, schlägt ihm entgegen. Vor dem Eingang eine Menschmasse, die in trunkenem Zustand alles blockiert. Er schiebt sich durch die Menge, öffnet die Glastür und steht mitten in der Bar. Da es am Abend geregnet hat, ist es stickig. Die schwüle Luft raubt ihm den Atem. Er hält Ausschau nach Mark, der Minuten zuvor geschrieben hat, er habe einen Platz ergattert. Im ohrenbetäubenden Getöse der lachenden, und lärmenden Menschen fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, als er einen Mann in der Ecke erblickt. Er ist größer als er, sein Körper ist schlank mit breiten Schultern. Vor ihm steht eine Flasche Bier, von der er das Etikett mit seinem Daumen kratzt. Er beobachtet die Menschen um sich herum. Seine Augen starren durch die Flasche ins Leere.

Philipp geht auf ihn zu, wirft seine Jacke auf die Eckbank und verpasst Mark einen Schlag auf die Schulter. Er verschluckt sich und hustet. Für einen kurzen Moment sieht er ihn verärgert an, verzieht dann aber sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, an dem sich seine Augen nicht beteiligen.

„Musste das sein?“

„War doch nur Spaß.“

Mark geht nicht weiter auf die Albernheiten Philipps ein. Sie reden über das Übliche. Nach einer Weile will Mark wissen, was Sache sei.

„Geht um Alice“, meint Philipp. Sein Magen zieht sich zusammen. „Es ist so, Alice war gestern unterwegs und ist nicht zurückgekommen. Dann habe ich heute Vormittag ´ne Nachricht von ihr erhalten, dass sie Zeit für sich brauche und bei ihren Eltern sei.“ Er zeigt ihm die Message, die er gefühlt zum hundertsten Mal liest.

„Hm“, erwidert Mark, „wenn ich ehrlich sein soll, sieht das nicht sonderlich gut aus. Ist jetzt nicht das, was du hören willst. Aber Mann, was erwartest du, du hast mir ja schon mal erzählt, dass es nicht gut läuft zwischen euch.“

Philipp starrt auf die Tischplatte: „Nicht wirklich, aber je öfter ich die Nachricht durchlese, desto unwirklicher kommt es mir vor, verstehst du. Und warum gerade jetzt?“

„Vielleicht hat sie ja jetzt erst den Mut gefunden zu gehen.“

„Du bist mir keine große Hilfe, weißt du das.“ Er blickt ihn mit hängenden Schultern an. Manchmal weiß er nicht, ob Mark ihn ärgert oder ob er nicht anders kann, als seine Meinung direkt ins Gesicht seines Gegenübers zu schmettern. Mark hebt eine Hand, Philipp spürt, wie sich lange, feine Finger auf seine Schulter legen.

„Weißt du“, fährt Philipp fort, „ich liebe sie wirklich, aber was das jetzt für uns zu bedeuten hat, ich habe keine Ahnung.“

Mark nickt und nippt an seinem Bier. Er starrt auf die Tischplatte. Seine blauen Augen sind ein Mysterium, zu dem er nicht durchdringt.

„Weißt du, was du brauchst?“ Philipp schüttelt den Kopf.

„Wir beide müssen mal wieder auf Tour gehen. Ein Konzert, wie früher. Dann kannst du deine Lackschuhe mal wieder gegen deine verratzten Docs tauschen.“

„Wie früher, hm“, seufzt Philipp und schüttelt den Kopf.

Mark verdreht seine Augen. „Mein ja nur, vielleicht muntert dich das auf.“

„Ich habe dir gesagt, dass ich auf die Aktionen von früher keinen Bock mehr habe.“

„Aber mit mir einfach mal wieder abhängen, das wird doch klappen, oder?“

„Wenn du dich benimmst.“

„Ich verspreche es.“ Mark legt die Hand auf sein Herz. „Das gelobe ich feierlich.“

„Hör auf, ich glaub´ dir ja. Nur ändert das auch nichts an der Situation mit Alice.“

„Hm, ja, stimmt.“ Mark kratzt sich an seinem Bart. „Was soll ich dir groß erzählen, wenn es um Boote geht, weiß ich, was zu tun ist. Aber wenn es um Beziehungen geht, dann musst du mich auch nicht fragen, du weißt ja, wie das bei Linda war. Eines Tages hat sie ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Die Warnzeichen waren da, aber wir Menschen verdrängen Dinge, die uns unangenehm sind, halt gerne.“

„Ich weiß, Mann.“ Philipps Blick wandert zur Flasche. Er setzt an, spürt aber nicht das erlösende Gefühl des Alkohols. Er braucht etwas Stärkeres. Er hebt die Hand und bestellt Gin mit Bitter Lemon und Zitronensaft.

„Auch einen?“, fragt er Mark, der verneint und seine Schlüssel zeigt.

„Du musst fahren, habe ich vergessen.“

„Wie siehts aus, was wirst du tun?“

„Weiß nicht. Abwarten und trinken.“ Philipp hebt sein Glas und prostet Mark zu. Danach verlieren sie kein Wort mehr über das Thema. Sie schwelgen in alten Erinnerungen, und wie sie jedes Wochenende mit blauen Flecken von Konzerten nach Hause getorkelt sind. Für den Rest des Abends vergisst er Alice.

Nach dem fünften Gin wird Philipp der sechste verweigert. In seiner Wut klatscht er einen fünfzig Euro Schein auf den Tresen und murmelt: „Ihr Schweine.“ Mark legt einen Zwanziger drauf, da sich der Barkeeper beschwert. Er sieht das Geld, steckt es ein und hält ihnen die Glastür auf, da Philipp nicht mehr allein hinaus findet.

Als Philipp im Ford Focus von Mark sitzt und in seinem Smartphone wieder die Nachricht von Alice liest, beginnt er mit dem Schreiben einer Antwort. Mark nimmt eine Hand vom Lenkrad und schlägt Philipps das Smartphone aus der Hand.

„Lass es. Das bringt nichts. Ich bring dich jetzt nach Hause und du schläfst dich aus, bis du wieder klar im Kopf bist.“ Philipp nickt. Er weiß, dass Mark Recht hat, so, wie meistens.

Philipps Magen rebelliert, ihm wird übel. Er klopft mit seiner Hand an die Tür, Mark hält sofort an. Philipp reißt sie auf und erbricht sich.

„Nur noch den Hügel da, dann haben wir‘s.“

Doch Philipp würgt erneut bei dem Gedanken, noch einen Meter mit dem Auto fahren zu müssen. Er winkt ab. „Schaff‘ isch schon“, lallt er und wirft die Tür zu.

Er winkt Mark zu, der das Fenster in die Versenkung gleiten lässt. „Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst.“

Philipp hebt erneut seine Hand zum Gruß. Kopfschüttelnd wendet Mark sein Auto und fährt in Richtung Bregenzer Straße davon.

Philipp wankt mit unsicheren Schritten zum Eingangsbereich des Wohnblocks, hält sich am Geländer fest und schiebt sich Stück für Stück die Treppe hinauf in den zweiten Stock. In seiner Wohnung angekommen greift er nach seinem Smartphone. Er hofft auf eine Nachricht von ihr. Hofft auf ein Zeichen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Doch da ist keine Nachricht. Er wankt ins Schlafzimmer und tippt die Nachricht zu Ende, die er angefangen hat. „Wieso machst du das mit mir? Ich sterbe fast.“ Danach fällt er augenblicklich ins Bett.

 

Kapitel 9

Haus des Entführers, Samstagnacht, 1. August

 Alice öffnet die Augen. Ihr Kinn liegt auf ihrer Brust. Ihr Nacken schmerzt. Sie versucht, den Kopf zu heben. Über ihr baumelt eine Lampe von der Decke. Sie blickt sich um, versucht ihre Hände zu bewegen. Doch vergeblich, sie sind hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Sie zittert am ganzen Leib. Wo ist sie? Was ist passiert? Verzweiflung erfasst sie.

Sie erinnert sich, dass sie in einen blauen Bus eingestiegen ist. Da war das Gesicht von Philipp hinter dem Steuer. Sie richtet ihren Blick auf die Wände, die mit grauen Fließen bestückt sind. Ihr Atem beschleunigt sich. Furcht überkommt sie, als sie eine schwarzgekleidete Gestalt entdeckt. Philipp? Der Verzweiflung weicht Wut. Sie bringt einen Teil ihrer Kräfte zurück. „Wenn das eines dieser dämlichen Sexspiele sein soll, dann vergiss es. Mir gehts beschissen, ich habe Kopfweh. Ich möchte einfach nur ins Bett.“

Die Gestalt am anderen Ende des Raumes rührt sich. Sie tritt näher ins Licht. Alice erkennt erneut Philipps Gesicht.

„Philipp, ich schwör dir, das ist weder antörnend noch witzig, kapiert? Mach mich los und bring mich nach Hause.“

Die Figur zeigt keine Regung. Sie steht da und beobachtet sie. Alice sieht zu der Gestalt, die die Show durchzieht. Sie brüllt: „Philipp, mach mich sofort los!“

Die Person tritt ganz ins Licht. Alice holt erneut Luft, um zur nächsten Schimpftirade anzusetzen, doch sie stockt, reißt ihre Augen auf. Das Gesicht von Philipp wirkt künstlich und verzerrt. Der Mann nimmt die Mütze ab. Sie realisiert: Nicht der echte Philipp steht vor ihr.

Sie schreit, reißt an ihren gefesselten Händen. Ihr Herz pocht. Das Einzige, an das sie denken kann, ist Flucht.

Die Gestalt tritt einen Schritt auf sie zu. Alice schreit um Hilfe, hofft, dass sie irgendjemand hört. Ihr Hals kratzt, alles in ihr zieht sich zusammen. Eine Hand streckt sich nach ihr aus. Sie weint. In der Zwischenzeit streicht der Mann mit seiner Hand über ihre Wange. Alice schreit vergeblich. Sie gibt die Hoffnung auf, dass jemand sie hört. Sekunden, bis sie versteht, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Sekunden, in denen sie erkennt, dass ihr etwas Schlimmes bevorsteht. Sie fürchtet sich. Vergewaltigung? Verstümmelung? Mord?

Der Mann packt ihre Haare und zieht ihren Kopf zurück. Ihr Körper zittert. Sie reißt fester an den Fesseln. Er zieht ein Blister Tabletten aus der Tasche und zwingt ihr eine in den Rachen. Sie hustet. Als er ihr die Nase zuhält, schluckt sie das Medikament. Ein bitterer Geschmack breitet sich auf ihrer Zunge und Mund aus.

Er lässt den Kopf los und bringt ihn in eine gerade Position. Ein Gefühl von Machtlosigkeit ergreift sie. Nach einigen Minuten setzt die Wirkung des Valiums ein. Ihre Muskeln erschlaffen, ihr Kopf sinkt auf die Brust. Jetzt löst der Mann die Fesseln von Alices Händen und legt sie in das Bett in der Ecke. Mit einem Rest von Klarheit realisiert sie, was geschieht. Der Raum dreht sich, verschwimmt. Das Letzte, das sie wahrnimmt, sind dumpfe, sich entfernende Schritte, das Klacken des Lichtschalters und das Schließen einer Tür. Sie ist allein, eingeschlossen in vollkommener Stille und Dunkelheit.

Kapitel 10

Wohnung von Philipp, Lochau-Tannenbach, Sonntag, 2. August

 Philipp stöhnt, als er das vierte Mal die Schlummertaste seines Smartphones drückt. „Blödes Ding“, murmelt er. Er hat vergessen, den Wecker auszuschalten, und nun quält es ihn schon geraume Zeit. Seine Augen brennen, es fällt ihm schwer, sie zu öffnen. Am besten möge der ganze Sonntag an ihm vorbeiziehen und ihn in Ruhe lassen. Er reibt sich die Augen. Sein Schädel brummt. Er legt seinen Arm auf die linke Seite des Bettes, niemand da.

Er schleppt sich in die Küche, um den übermäßigen Durst zu löschen. Seine Augen pochen, ein Schwindel erfasst ihn. Er muss sich setzen. Er checkt die Nachrichten vom Vortag. Er liest seine Nachricht von gestern und schämt sich. Insgeheim hofft er immer noch auf eine Antwort, einen Anruf, irgendetwas, damit er sich nicht wie ein Idiot fühlt.

Er legt sein Smartphone beiseite und geht zur Kaffeemaschine. Da, ein Vibrieren. Er starrt auf den Bildschirm. Eine Nachricht von Alice. Sein Herz schlägt bis zum Hals: „Hey Philipp, lass uns am Dienstagabend an unserm Platz treffen, ich möchte mit dir reden. Hoffe, es geht dir so weit gut. Gib mir Bescheid, ob 22:00 Uhr für dich passt. Liebe Grüße, Alice.“

Ich möchte mit dir reden. Warum erst so spät? Sie lässt ihn warten, ignoriert seine vorige Nachricht. Er hat etwas anderes erwartet. Doch er ist nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Er will nur, dass sie ohne großes Reden zu ihm zurückkommt. Er hatte sich eher ein: „Ich habe es mir anders überlegt“ oder, „Es tut mir leid, bin bald wieder zuhause“ erwartet, aber aus dieser Illusion wird wohl nichts.

Er legt sein Telefon zurück auf den Tisch, nimmt es dann doch wieder zur Hand und tippt: „Okay, werde da sein, hoffe es geht dir gut.“ Mehr fällt ihm nicht ein. Er würde sie gerne fragen, warum sie das mit ihm macht, was das solle und warum sie erst am Dienstag so weit sei. Doch er will die Sache nicht mehr verschlimmern. Er hat das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen, immer und immer wieder. Das macht ihn rasend.

Kapitel 11

Finanzamt Bregenz, Dienstag, 4. August

 Philipp lächelt bei dem Witz, den sein Arbeitskollege Fred gerade erzählt. Lustig findet er seinen Kollegen nicht und im Grunde kann er ihn nicht leiden, aber sie teilen sich ein Büro. Das macht es schwierig, wenn man nicht miteinander auskommt. Am liebsten würde er seinen Kopf gegen das Regal schmettern. Fantasien, die ihm über den Tag hinweg helfen, wenn es mal wieder zu geschmacklosen Witzen kommt, die er mittlerweile alle auswendig kennt.

Er weiß nicht, wie oft er ihm gesagt hat, dass er seine Witze nicht mehr hören möchte. Wenn es zu einer solchen Konfrontation kommt, herrscht jedes Mal Stille, aber nach ein paar Tagen fängt er wieder damit an. Das ist einer der Auslöser für den Zorn, der sich täglich in ihm aufstaut und wofür er kein Ventil findet. Nicht im Sport, nicht im Beruf, nicht auf Reisen und auch nicht in endlosen Gesprächen mit seinen Freunden. Er hat es einmal mit Boxen versucht, doch das hat ihn nur noch wütender gemacht. Was die einen als ausfallend bezeichnen, ist für ihn manchmal ein unkontrollierter Ausbruch seiner angestauten Gefühle.

Er atmet fünfmal ein und wieder aus, nimmt sich zusammen und presst seine Lippen aufeinander. Er sieht auf die Uhr: Drei Uhr nachmittags. Er fixiert die endlosen Zahlenketten auf seinem Bildschirm, die sich ihm heute nicht erschließen, die er aber sonst schnell durchblickt. Einmal, nachdem er Alice kennengelernt hatte, hatte er einer Firma deren Steuerbetrug nach nur einem Tag nachgewiesen. Ach ja, Alice, denkt er und verpasst sich eine innerliche Ohrfeige dafür, als der kahle Kopf seines Kollegen hinter seinem Bildschirm auftaucht.

„Hey Philipp, was haben Frauen und Gewehre gemeinsam?“ Er grinst und hüpft auf seinem Stuhl auf und ab.

„Keine Ahnung“, antwortet er und verdreht die Augen.

„Na, beide muss man über eine Kante legen, um sie von hinten zu laden. Haha.“

Philipp grinst ergeben. Er blickt auf die Uhr. Die Zeiger scheinen still zu stehen. Keine Sekunde länger ist er im Stand, dieses frauenverachtende Arschloch, das er mit seinem Lachen auch noch unterstützt, zu ertragen. Er schaltet den PC aus und steht von seinem Stuhl auf.

„Ich muss jetzt los, bis morgen.“

„Hey Philipp, willst du noch einen hören.“

Noch ein bescheuertes Wort und ich reiß dir den Kopf ab, denkt er. „Nein danke, morgen vielleicht.“

„Ach komm, hab dich nicht so“, sagt er und setzt zu seinem nächsten Witz an.

„Hast du mich nicht gehört? Was an dem Wort „Nein verstehst du nicht?“

 Fred verzieht sein Gesicht. „Wenn du meinst.“ Mit diesen Worten lässt er sich in seinen Stuhl fallen und versteckt das Gesicht hinter dem flimmernden Bildschirm. Philipp ist das egal. Das Einzige, was er an diesem Tag tun will, ist, mit Alice Klartext zu reden.

Er stößt die Türen auf, hastet aus dem Amt und steigt in seinen Audi. Das Gespräch mit Alice beunruhigt ihn. Der Satz „Wir müssen reden“ will nicht mehr aus seinem Kopf. Seit Tagen baut sich eine unsichtbare Spannung in ihm auf, die sich mit seiner Verlustangst mischt.

Kapitel 12

Uferpark Wäsen, Lindau, Dienstag, 4. August

 Es dämmert, als er sich auf den Weg zum Treffpunkt macht. Er nimmt sich vor, die Strecke zu gehen, obwohl sie von seiner Wohnung eine Stunde Fußweg ausmacht. Doch er braucht frische Luft, um seinen Kopf freizubekommen. Er hastet vorbei an dem Lärm, den Menschen und Autos verursachen, die den See und die Straße überbevölkern.

Als er die vereinbarte Stelle erreicht und sich durch das Gestrüpp kämpft, steigen alte Erinnerungen in ihm auf. Möglicherweise ist das ein Zeichen für einen Neuanfang. Er blickt auf die Berge, hinter denen die Sonne fast vollständig verschwunden ist. Er spürt die Hitze, die von den Steinen aufsteigt. Er tritt von einem auf den anderen Fuß. Sie ist schon zehn Minuten überfällig. Wo bleibt sie nur?, denkt er sich.

Um ihn herum knacken Äste, sein Herz schlägt schneller. Es ist soweit. Er erblickt Alices Kopf, ihre Beine und einen grauen Sweater. Untypisch, denkt er. Ihre Haare sind zerzaust. Letzte Reste ihres Make-ups sind im Gesicht verschmiert. Vor allem ist sie nicht allein. Hinter ihr bewegt sich eine Person mit Maske, die ein ihm bekanntes Gesicht zeigt. Er starrt sie an. Sein Gesicht, eine Maske. Er sieht ihre zitternden Hände. Die Gestalt hält sie fester als nötig.

Alice lächelt gequält, ihre Augen sind halb geöffnet. Ihre Hände umklammern einen Zettel. Sie blickt ihn an. Er erkennt einen Hilfeschrei in ihren Augen. Er steht da. Beobachtet sie, unfähig, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Sein Mund ist trocken. Er hofft, dass es nur ein Traum ist. Er realisiert, was vor sich geht. Er nähert sich Alice. Die Gestalt lässt ein Messer aufblitzen und hält es Alice an die Kehle. Philipp verharrt. Seine Hände sind schweißnass. Er will die Gestalt anschreien, sie fragen, was er mit seiner Freundin vorhat.

Der Fremde hält Alice den Zettel vor die Augen. Sie beginnt zu lesen: „Philipp, schön, dass du gekommen bist. Du fragst dich sicher, was das hier soll, warum du hier bist, wer ich bin, dass ich deine Freundin Alice bei mir habe. Haben dir meine Nachrichten gefallen? Wie du vielleicht schon mitbekommen hast, ist sie in meiner Gewalt. Das heißt, ich habe auch dich in der Hand. Du kannst sie wiederhaben. Verführe Frauen, die Alice ebenbürtig sind und bring sie zu mir. Gehst du zur Polizei, stirbt sie. Kriegen die mich, stirbt sie. Machst du nicht, was, ich dir sage, stirbt sie. Such es dir aus.“

Alice legt eine Pause ein. Die Gestalt weist auf einen Abschnitt des Papieres. Alice schluckt, ihre Augenlider flattern. Sie fährt mit zitternder Stimme fort: „Du siehst, es ist ganz einfach: Du erfüllst meine Forderung, sie bleibt am Leben. Dann könnt ihr euer geheucheltes Leben weiterführen. Aber nur, wenn du mir bringst, was ich verlange.“ Der Maskierte zieht ein kleines Fläschchen aus der Hosentasche und stellt es neben sich auf den Boden. „Das hilft dir, wenn es mal nicht so klappt. Du verstehst? Flöße den Frauen ein paar Tropfen ein. Den Tag gebe ich dir bekannt. Nicke, wenn du verstanden hast.“

Philipp nickt. Er hat keine andere Wahl. Er tritt einen Schritt auf die Gestalt zu. Der Maskierte nimmt das Messer und ritzt Alices Kehle an. Blut tropft aus der Wunde. „Hey, schon gut“, ruft Philipp. Gedanken, die sich in ihm ausbreiten, die ihm Klarheit verschaffen, wem er da gegenübersteht. Dem Gentleman.

Der Maskierte lässt das Messer sinken und deutet auf den Zettel, den Alice wieder auseinanderfaltet. „Du wist dich jetzt umdrehen und uns verschwinden lassen.“

Philipp nickt. Er wendet sich ab und blickt auf das Wasser, während die Gestalt mit Alice im Dickicht verschwindet. Als er sicher ist, dass die beiden weg sind, dreht er sich abermals um. Betäubt von dem Erlebnis ergreift er das Fläschchen und steckt es ein. Zeitlos geht er zurück in die Wohnung. Als er den grauen Boden des Hausflures wahrnimmt, ist er wieder in der Realität. Stufe um Stufe schleppt er sich zur Wohnung, bis er hinter sich ein „Hey Philipp“ hört.

„Hallo Clara“, antwortet er. Die hat ihm jetzt noch gefehlt. Er reibt sich das Gesicht, dreht sich um und versucht zu lächeln.

„So spät noch unterwegs?“

„Musste ein bisschen den Kopf frei kriegen.“

„Ist alles okay? Du siehst gar nicht gut aus.“

„Doch, doch, alles bestens.“ Er streckt seinen Daumen in die Höhe, eine Geste, die ihm lächerlich erscheint. Sie nickt, lässt den Kopf sinken und verzieht den Mund zu einem Lächeln, sodass ihr Schönheitsfleck über ihrer Lippe tanzt.

„Okay, wollte dich eh mal fragen, ob wir in nächster Zeit mal was zusammen machen.“ Sie grinst. Er kennt dieses Grinsen. Es ist dieses eine, wenn Alice nicht dabei ist.

„Gern, Alice ist gerade bei ihren Eltern zu Besuch. Melde mich, wenn sie wieder da ist.“ Er spürt, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildet. Lange kann er den Schein nicht mehr wahren. Für einen Moment zieht sie die Mundwinkel hoch, läuft zu ihrer Wohnungstür, klimpert mit dem Schlüssel und steckt ihn in das Schloss.

„Du kannst auch ohne sie kommen. Ein Gläschen Wein von Nachbar zu Nachbar.“ Als sie das sagt, sieht sie ihm direkt in die Augen. Er weicht ihrem Blick aus und starrt auf das Geländer. „Denk´ drüber nach.“ Sie dreht den Schlüssel im Schoss um und lässt die Tür hinter sich zufallen.

Er steht im Treppenhaus. Dem Angebot von Clara schenkt er keine Beachtung, sondern steigt die restlichen Stufen hinauf zu seiner Wohnung. Er öffnet die Tür. Er taumelt, die Beine drohen den Dienst zu versagen. Durch seinen Kopf schießen tausend Gedanken gleichzeitig. Er versucht, die Situation zu begreifen. Was war das? Dann bricht er zusammen. All die Kraft weicht aus seinem Körper, all die Zuversicht. Er hat mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Gentleman. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Was für ein Versager er doch ist.

Er holt das Fläschchen mit der durchsichtigen Flüssigkeit aus seiner Hosentasche, öffnet es und riecht daran. Geruchlos. Doch er weiß sehr wohl, was das ist. K.o. Tropfen, die die Opfer bewusstlos und zugleich willenlos machen. „Du musst zur Polizei gehen“, sagt er zu sich. Er nimmt sein Smartphone in der Hand, gewillt, eine Dummheit zu begehen. Philipp hat seinen Finger auf der Notruftaste, als ein Gedanke aufpoppt: „Wenn er einen Informanten bei der Polizei hat?“ Er zieht seinen Finger zurück und legt das Gerät neben sich auf den Beistelltisch. Er sieht keinen Ausweg.

Er richtet sich auf, geht zum Regal, in dem ein Bild von Alice und ihm aus besseren Zeiten zu sehen ist. Es zeigt sie beide, strahlend und in der Sonne sitzend, im Hintergrund der See. Da waren sie ein Jahr zusammen. Philipp greift nach einem anderen Bild in dem Regal. Alices Haare liegen zur Hälfte über seinen Schultern. Sie lachen, nicht gekünstelt, nein, das war echt. Und das will er zurück, er will Alice zurück. Tränen steigen ihm in die Augen. Er lässt es zu und umklammert das Bild so fest, dass das Glas zerbricht. Er wird sie zurückholen. Koste es, was es wolle.

Er setzt sich in einen Stuhl und blickt auf die Straße, auf der einzelne Lichtkegel tanzen. Seine Tränen versiegen. „Ich werde dich zurückholen“, sagt er zu sich, „zu mir, wo du hingehörst.“