Der Gentleman - Dämonen

Während Alice ihr neues Leben als Influencerin zunehmend zur Last fällt, bricht Philipp aus der geschlossenen Psychiatrie aus, um sich an ihr zu rächen. Er droht, belastende Informationen über sie zu veröffentlichen und ihre Lügen aufzudecken, wenn sie sich nicht schuldig bekennt. Alice fürchtet, dass er seine Drohungen wahr werden lässt und stellt sich ihm. Was sie nicht weiß, Philipp ist nicht allein.

Leseprobe

Prolog

Alice ist fünfzehn Jahre alt und sitzt vor ihrer besten Freundin Helena. Die Mädchen haben sich in eine der grünen Ecken des mit Pflastersteinen gestalteten Pausenhofes zurückgezogen. Helena kommt regelmäßig an diesen Ort, um zu lesen, Musik zu hören oder sich von den anderen Schülern abzusondern.

Alice blickt Helena in die Augen. An der Oberfläche sehen sie wie ganz gewöhnliche braune Augen aus. Doch sieht sie genauer hin, taucht sie in eine Welt ab, die eine Vertrautheit in ihr hervorruft, die sie wie eine warme Decke umhüllt und ihr Sicherheit schenkt. Dieses Gefühl sucht Alice permanent und auch wenn es ihr schwerfällt, sie muss sich von dieser Sicherheit lösen. Alice kann ihr nicht mehr so nah sein, obwohl sie seit der Grundschule beste Freundinnen sind. Chiara, Sandra und Sarah sind schuld. Die Gruppe beliebter Mädchen an der Schule, mit denen sie ebenfalls gut befreundet ist, will nicht mehr, dass sie mit Helena gesehen wird. Sie bezeichnen sie als seltsam und durchgeknallt. „Nur weil sie eine gestreifte Strumpfhose trägt, zwei verschiedene Chucks anzieht und viel allein ist, ist sie noch lange nicht merkwürdig“, hat sie zu ihnen gesagt. Doch für die Mädchen ist der Fall klar. Alice soll sich von ihr fernhalten, sonst lassen sie sie fallen. Dann werden beide ausgeschlossen und gemobbt. Wenn sie tut, was sie sagen, lassen sie Helena in Ruhe und nehmen Alice bei sich auf.

Alices Herz wiegt schwer, wenn sie daran denkt, dass ihr Helena nicht mehr zuhören wird, wenn sie von ihren Ängsten und Sorgen erzählt. Sie blickt erneut in Helenas Augen und schämt sich. Helena erzählt gerade, dass sie angefangen hat, Geschichten zu schreiben.

„Möchtest du mal eine davon lesen?“, fragt sie Alice.

„Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.“

Sie stockt, dann bricht es aus ihr heraus: „Ich glaub´, wir sollten uns nicht mehr sehen.“

Helena zuckt, sie schüttelt ihren Kopf. „Du verarschst mich doch“, gibt sie ungläubig zurück.

„Nein, das ist mein voller Ernst. Ich will nicht mehr, dass wir uns sehen.“

Helena entgegnet: „Du bist nur zu faul zum lesen. Gib´s zu.“

Alice blickt sie mit kalter Miene an, bis Helena realisiert, dass das kein Scherz ist.

„Ist das wirklich dein Ernst?“ Sie sackt in sich zusammen. Alice bemerkt, wie die Farbe aus ihrem Gesicht weicht. Sie zieht die Füße an ihren Körper. „Ist es wegen dieser oberflächlichen Schlampen?“

„Nein, ist es nicht. Ich meine, ja, irgendwie schon. Sie lassen mir keine Wahl. Sonst gehöre ich nicht mehr dazu.“

„Und es ist ja so schlimm, wenn du nicht dazu gehörst. Ich versteh‘ schon.“ Helena schüttelt den Kopf, legt ihr Kinn auf ihre Knie.

„Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass“

„Dass ich verletzt bin und mich wie Dreck fühle?“

Alice nickt. Sie will ihre Hand auf Helenas Arm legen, doch diese steht auf und schlägt ihn zur Seite: „Dein Problem ist, dass andere bestimmen, wer du zu sein hast. Nie du selbst.“

Alice versteht kein Wort. Sie will aufstehen, um Helena zu beruhigen. Sie winkt ab und dreht ihr den Rücken zu. „Du hast mich so verstanden wie niemand sonst“, sagt Alice.

„Dann kapier ich nicht, was das soll“, erwidert Helena.

„Ich muss weiterkommen und beides geht nun mal nicht.“

„Du musst?“ Helena hält inne, dreht sich zu Alice und lacht verzweifelt. „Egal, lassen wir das. Du wirfst unsere Freundschaft einfach weg, damit du beliebter wirst. Ich habe dir so viel anvertraut. Mehr als jeder anderen, die ich kenne. Ich versteh´ schon, ich bin halt nicht so beliebt, meide Menschen. Aber deswegen bin ich noch lange nicht weniger wert als diese Hohlbratzen.“ Sie vergräbt das Gesicht in ihren Händen. „Aber schön zu wissen, dass du unsere Freundschaft für solche Leute aufgibst.“ Helena dreht sich ohne ein weiteres Wort um und läuft zum Schulgelände. Alice hört nur mehr ein Schluchzen, als Helena wegläuft.

Alice sitzt auf dem Boden. Sie will aufstehen, doch die Scham drückt sie zu Boden. Sie hat Helena nur schützen wollen. Niemals wollte sie ihr wehtun. Gleichzeitig steigt Wut in ihr hoch. Warum versteht Helena nicht, dass sie sie nur beschützen will? Und wenn sie versucht weiterzukommen, dann ist das eben so. Sie tut, was von ihr erwartet wird: immer höher aufsteigen. Vor allem aber erwartet das ihre Mutter von ihr.

Alice starrt auf das weiß verkleidete Gebäude. Sie hört unterbewusst das Geschrei ihrer Mitschüler im Hintergrund, das Trommeln ihrer Füße auf dem Linoleumfußboden. Für sie gleicht der Bau einer Arena, in der nur die Stärksten überleben. Hätte sie sich für Helena entschieden, würde sie mit ihr untergehen. Im Grunde will sie mit auf Partys, angesagte Jungs daten, es allen zeigen. Auch wenn ihr die Trennung von Helena schwerfällt und sie sie vermissen wird, hätte ihre Freundschaft keine Zukunft. Nicht für Alice. Sie steht auf, klopft sich den Staub von ihren Jeans, richtet ihren Oberkörper auf und stolziert in das Gebäude.

Es ist Sommer, drei Uhr am Nachmittag. Als Alice zuhause ankommt, ist sie allein im Haus. In eineinhalb Stunden kommt ihre Mutter. Wenig Zeit, in der sie entspannen kann, ohne nach ihrem Tag ausgefragt zu werden. Sie legt sich auf eine Liege in die Sonne und beginnt eine Stunde später zu lernen.

Eineinhalb Stunden später kommt ihre Mutter. Ohne anzuklopfen, betritt sie Alices Zimmer. Alice spürt eine Kälte, die sie jedes Mal überkommt, wenn ihre Mutter bei ihr ist.

„Was machst du da?“

„Hallo, Mama, Hausaufgaben.“

„Aha, lass‘ mal sehen.“ Ihre Mutter tritt an sie heran, wirft einen Blick auf Alices Unterlagen.

„Wann hast du angefangen?“

„Mit Mathe? Vor fünfzehn Minuten ungefähr.“

„Und bist noch immer bei der ersten Aufgabe?“ Sie sieht sie mit eisigen Augen an. „Du musst schneller werden.“

Dann dreht sie sich um und verlässt das Zimmer. Alice lächelt, bis ihre Mutter das Zimmer verlassen hat. Die Anspannung will dieses Mal nicht nachlassen.

Am Abend kommt Alice Vater nach Hause. Sie sieht ihn nur am Wochenende. Meist ist er schon aus dem Haus, wenn sie aufsteht. Er arbeitet viel und lange, um ihnen ein besseres Leben zu finanzieren. Alice hängt sehr an ihrem Vater. Trotz des vielen Stresses, den er mit seiner Firma hat, ist er ein ruhiger, ausgeglichener Mann. Hin und wieder wundert sie sich, wie ihre Mutter und er zueinander gefunden haben.

Als sie beim Abendessen sitzen, erzählt sie von ihrem Tag. Sie beginnt mit der Schule, und wie sehr sie sich angestrengt hat, besser zu sein als alle anderen. Das Erste, was sie loswerden will, ist die beendete Freundschaft mit Helena. Sie erwartet, dass ihre Eltern ihr zuhören, sie bemitleiden. Auch wenn sie sich für ihr Verhalten Helena gegenüber hasst.

„Es tat so weh. Als würde etwas in Helena kaputt gehen, versteht ihr?“

Ihre Mutter sieht von ihrem Essen auf.

„Das war die richtige Entscheidung. Halte dich lieber an Chiara und die anderen. Mit denen erreichst du mehr. Helena war immer schon etwas seltsam. Welcher normale Mensch zieht denn zwei verschiedene Schuhe an? Noch dazu ihre Strumpfhosen.“ Ihre Mutter schüttelt den Kopf und stochert weiter in ihrem Gemüse. Vater hingegen streicht ihr über den Rücken und drückt sie.

„Tut mir leid“, sagt er. Das war, was sie wollte. Etwas Verständnis.

Im späteren Verlauf des Abends telefoniert sie mit Chiara, die ihr den Auftrag erteilt hat, Helena abzuservieren.

„Ich hab´s getan, bin nicht mehr mit ihr befreundet.“

„Wow, das hätte ich nicht gedacht. Hat sie geweint?“

„Klar hat sie das. War richtig erbärmlich.“

„Bist ja doch nicht so nett, wie du immer tust.“

„Ich? Nett? Kennst‘ mich aber schlecht.“

Chiara lacht. „Dann werden wir viel Spaß miteinander haben. Am Wochenende gehen wir übrigens ins Kino, danach noch zu mir. Ein paar Jungs werden auch da sein, also mach dich hübsch.“

Alice grinst. „Bin dabei.“

„Das ist keine Frage mehr. Alice, du gehörst jetzt zu uns.“

Ein wohliges Gefühl erfasst sie. Sie hat es geschafft. Ihre Zukunft wird genauso strahlend werden wie in ihrer Vorstellung, vielleicht sogar noch besser.

Das Gefühl hält den ganzen Abend an. Bevor sie einschläft, kommt ihr erneut Helena in den Sinn. Das erste Mal an diesem Tag weint sie. Das Gefühl, sie habe Helena und sich verraten, verschwindet nicht. Obwohl das Gefühl dazuzugehören so befriedigend ist, führt es nirgendwohin. Egal, wie viele gute Noten sie schreibt, wie viel Anerkennung sie erhält. Wie viel Jungs und später Männer ihr hinterherjagen werden. Es ist, als wäre sie ein leeres Gefäß, das nicht imstande ist, irgendetwas in sich zu behalten.


Kapitel 1

Restaurant Petrus: Bregenz, Donnerstag, 22. Oktober

Alice wankt, als sie auf Jonas zugeht. Die tiefstehende Sonne blendet sie. Trotz ihrer Sonnenbrille schmerzen ihre Pupillen. Sie verdeckt ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne.

„Hast du schon wieder getrunken?“ Sie blickt zu Boden. Jonas zieht die Nase nach oben und murmelt vor sich hin: „Los, gehen wir. Sonst sind wir viel zu spät.“ Alice streicht sich die Haare aus dem Gesicht und folgt ihm. Er geht vor ihr, bleibt beim Eingang der Brasserie stehen. Er öffnet ihr die Tür, sie betritt das Lokal. Jonas wartet einen Moment. Die Köpfe der Gäste drehen sich zu ihnen. Er lächelt und drückt Alice an sich. Ein Kellner mit schwarzem Haar und einer Wunde am Kinn kommt auf sie zu. „Ich habe reserviert, auf Jonas Steiner.“

„Natürlich.“ Der Kellner nickt. Dann führt er sie zu einem Tisch in der Mitte des Restaurants.

Alice ist das zuwider. Sie mustert den Fliesenboden, von dem ihr schwindelig wird. Als sie Platz genommen haben, reicht ihnen der Kellner die Karte. Auf die Frage, was sie trinken wollen, schlägt Alice die beigelegte Weinkarte auf und zeigt auf eine beliebige Position. „Bringen Sie mir die ganze Flasche.“ Als sie das sagt, bemerkt sie die Verachtung in Jonas Augen.

„Außerdem noch eine Flasche Wasser, bitte“, fügt Jonas hinzu.

„Sehr gern“, sagt der Kellner und entfernt sich von ihrem Tisch.

Jonas Blick wird eindringlicher. „Muss das jetzt unbedingt sein? Hast du nicht schon genug getrunken? Du weißt ganz genau, dass ich Rotwein nicht ausstehen kann. Und bitte, nimm deine Sonnenbrille ab, die Leute sehen uns schon komisch an.“ Sie kneift die Augen zu und legt die Sonnenbrille ab. Sie fixiert ihn. Um ihn zu besänftigen, formt sie ihre Lippen zu einem Kussmund.

„Deine Pupillen sind weit. Was hast du genommen?“

„Nur meine Medikamente. Reg‘ dich nicht auf.“ Er verzieht das Gesicht, starrt wortlos in die Karte. Sie lächelt gezwungen. Dann lässt sie den Blick durch den Raum gleiten. Sie hätte nicht gedacht, dass sie nochmals mit ihrem Ex-Freund Essen gehen würde. Auch nicht, dass ihr die Aufmerksamkeit um ihre Person irgendwann zu viel wird.

Seit ihrer Entführung wurde sie oft eingeladen. Egal ob auf Veranstaltungen oder einfach nur aus Mitleid: vom Bürgermeister, von ihren Eltern, von anderen Männern und von Jonas, zu dem sie letztendlich zurückkehrte, weil das Alleinsein schlimmer für sie war. Jede Sekunde ihres Lebens gleicht einer Tortur. Sie hat das Gefühl, die Leere und Schuld in ihr würden nie verschwinden, egal, wie viel Medikamente sie nimmt oder wie viel sie trinkt.

Ein paar Minuten später gießt der Kellner Rotwein ein. Sie kennt die Prozedur: Einmal probieren, dann nachschenken lassen. So lange, bis die Flasche leer ist. Sie nimmt das Glas, nippt daran und nickt. Darauf schenkt er nach, bis das Glas zu einem Viertel gefüllt ist. Dasselbe Prozedere wiederholt er bei Jonas, der nur ein Achtel in sein Glas gießen lässt.

Sie atmet auf. Der Wein heilt sie nicht, doch er hilft ihr, zu vergessen. Als Jonas die Essensbestellung aufgibt, starrt sie gedankenverloren in die Karte. Sie sagt kein Wort, wartet ab. Jonas bestellt für sie eine Suppe und einen Salat. Er nickt zufrieden und drückt dem Kellner die Karte in die Hand. Der Kellner blickt zu ihr, sie hat nichts mehr hinzuzufügen und legt ihre Karte vor sich auf den Tisch. Ihr Herz schlägt schneller, als sie in Jonas braune Augen blickt, die dunkler scheinen als sonst. Sie weiß, dass von ihr erwartet wird, so hübsch und schlank zu bleiben, wie sie sich heute präsentiert: Alice, die sich aus den Fängen des Gentleman befreien konnte. Die ihren Traum verwirklicht hat und jetzt auf Instagram Followerzahlen im sechsstelligen Bereich hat. Deren Tag damit beginnt, sich zuerst auf die Waage zu stellen, um dann einen Kampf gegen ihren Körper zu führen.

Jonas mustert ihren Oberkörper. Alice ist sich sicher, dass er über ihre Ausfallserscheinungen hinwegsehen wird. „Hübsch siehst du aus in deinem roten Kleid“, sagt er, worauf sie ihm einen Kuss zuwirft.

„Hast du jetzt mal über mein Angebot nachgedacht?“

„Worüber?“

„Na, ob du bei mir einziehen willst?“

Sie verschluckt sich beinahe an ihrem Rotwein.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich noch überlege.“ „Okay, aber überlege nicht zu lange. Ewig gilt das Angebot nicht.“

Sie trinkt einen großen Schluck aus ihrem Glas. Sie und er in einer Wohnung. Bei diesem Gedanken fällt ihr das Atmen schwer. Jemanden kontinuierlich, um sich zu haben, der sie überwacht, dass sie kalorienreduziert isst, Sport treibt und sich bei jeder Gelegenheit attraktiv anzieht. Unvorstellbar.

Der Ober serviert das Amuse-Bouche. Sie blickt zu Jonas, der beide Appetithappen verschlingt. Ihr Magen knurrt. Sie starrt in ihr Glas. Seit vier Monaten ist sie wieder mit ihm zusammen. In der Vergangenheit haben sie eine zweijährige Beziehung geführt, an deren Ende er sie durch eine andere ersetzt hat. Früher war sie ihm nie dünn und fit genug. Nie sah sie gut genug aus. Das ließ er sie spüren, indem er ständig mit anderen Frauen Kontakt hatte, die, wie er sagte, hübscher waren als sie. Wie sehr er beteuerte, er habe sich geändert, als er sich wieder bei ihr meldete. Sie weiß, dass er das nicht getan hat, doch in diesem Moment scheint er der zu sein, der ihr Stabilität bietet.

Sie schießt Fotos vom Essen, leert nach und nach die Weinflasche, lässt sich jedoch von der Wirkung des Alkohols nichts anmerken. Als sie fertig gegessen haben, Jonas großzügiger Weise die Rechnung beglichen hat, streicht er durch sein Haar, zieht sich sein blaues Jackett über und greift nach ihrer Hand. Gemeinsam treten sie aus dem Restaurant. Er nimmt kraftvoll ihren Arm, zieht sie zu sich heran und gibt ihr einen Kuss. Der lederne Duft seines Parfums kitzelt in ihrer Nase. Sie posiert aus Gewohnheit. Doch da ist niemand, der sie fotografieren könnte. Jonas bemerkt das, verlangt noch einen Kuss und schießt ein Selfie.

Sie lächelt, ihre Augen wirken leer. Als sie in Jonas Auto sitzen, fügt Alice die Bilder vom Essen zu ihrer Instagram-Story hinzu, und er postet stolz das Bild mit ihr. Ein Gedanke: „Du bist nur seine Trophäe, nichts weiter.“ Sie blickt zu Jonas. Er stiert in sein Smartphone, betrachtet die Bilder und gratuliert ihr zu ihrer tollen Figur. Sie nickt, lächelt und blickt durch die getönten Scheiben seines Mercedes in die Dunkelheit. Ein Gefühl der Hilflosigkeit steigt in ihr auf. Die Erinnerungen an den VW-Bus und die Entführung kommen zurück. Ihre Hände werden schweißnass. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie will aussteigen, doch eine unsichtbare Last hält sie zurück. Machtlosigkeit breitet sich aus.

Sie erinnert sich an die zerschnittenen Gesichter von Mia, Sandra und Clara. Marks gespaltenen Schädel. Blut an ihren Händen. Sie greift in ihre Tasche, sucht nach dem Diazepam. Als sie eine davon in den Mund schiebt, vergehen fünf unerträgliche Minuten, in denen sie auf blutbefleckte Hände starrt und ihr Körper in eine Schockstarre verfällt. Jonas, der auf dem Fahrersitz hin und her rutscht, wirft ihr lediglich einen Blick zu. „Wieso nimmst du wieder diese Tabletten?“

Sie blickt ihn an, sein Gesicht verschwimmt vor ihren Augen. Die Tabletten treten in Wechselwirkung mit dem Alkohol.

„Ist es immer noch wegen deiner Entführung? Darüber haben wir doch schon so oft geredet. Das war vor zwei Jahren. Bekomm‘ das in den Griff. Und außerdem, was sollte das heute schon wieder? Hast du nicht gesehen, wie die uns alle angestarrt haben? Die sollen zu uns aufsehen, nicht andersherum.“

Alice nickt. Das Diazepam entfaltet seine Wirkung. Ihr Herz schlägt langsamer. Die Angstzustände lösen sich. Jonas hat Recht. Sie muss das in den Griff bekommen. Wenn ihre Maske Risse bekommt, wird sie ihre Follower verlieren. Jonas startet den Wagen und lenkt ihn in Richtung Hard. Während sie auf dem Weg sind, legt er eine Hand auf ihren Oberschenkel. Anfangs ist es nur ein Streicheln, doch er wird immer fordernder. Schließlich fährt er mit der Hand unter ihr Kleid. Obwohl die Tablette sie beruhigt, fühlt sie sich unwohl. Sie weiß, was er von ihr erwartet. Er hat das Essen nicht umsonst bezahlt. Sie muss ihre Hand in seinen Schritt legen, ihn ebenfalls streicheln, um ihn zufriedenzustellen. Zumindest vorerst.

Sie tut, was er stillschweigend fordert. Er lächelt überlegen. Eine Stimme sagt ihr, sie solle dankbar sein für jemanden wie ihn. Gerade weil sie nicht die perfekte Figur wie die anderen Frauen hat, deren Bilder er ihr manchmal als „Motivation“ zeigt. Jonas biegt ab und fährt in die Tiefgarage ein. Er parkt das Auto auf seinem Stellplatz, schiebt ihr Kleid nach oben und lehnt sich zu ihr. Er versucht ihr einen Kuss zu geben, gräbt seine Hand tiefer unter ihr Kleid. Sie schiebt ihn von sich. „Nicht hier, lass uns nach oben gehen.“

Er schnaubt, steigt aus, geht hinter ihr her, betrachtet sie. Sie hört ihn schwer atmen. Als sie in seiner Wohnung stehen, zieht er die Tür hinter sich zu, packt sie an den Schultern und drückt sie gegen die Wand.

Alice wehrt sich, der herbe Geruch seines Parfüms stößt sie nur noch ab. „Du bist zu grob. Kann ich noch was zu trinken haben?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich möchte jetzt eine andere Sache mit dir machen.“ Er drückt seinen Körper gegen den ihren. Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust kehrt zurück. Ein Schrei entweicht ihrer Kehle. Er springt zurück.

„Sag mal, spinnst du? Du kannst mir nicht einfach so in mein Ohr schreien. Du bekommst nichts mehr zu trinken. Jetzt lass uns endlich Spaß haben.“

„Nein.“

„Was soll das denn jetzt?“

„Ich will nicht.“

„Warum denn auf einmal?“

Sie zögert. Der Alkohol lockert ihre Zunge, das Diazepam verschiebt ihre Wahrnehmung. Sie drängt sich an ihm vorbei und geht in die Küche.

„Komm wieder her.“

„Nein. Ich brauch erstmal was zu trinken.“

Sie zieht ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnet es, setzt an und trinkt. Er läuft ihr hinterher. Mit Händen zu Fäusten geballt steht er hinter ihr. Er greift nach dem Bier. Sie weigert sich. „Mir reicht´s langsam mit dir“, sagt er und starrt sie wutentbrannt an. Sie schüttelt den Kopf. Das Letzte, an was sie denken möchte, ist, mit ihm zu schlafen. Jonas versucht erneut, ihr die Bierflasche abzunehmen. Was mit einer Rangelei beginnt, weitet sich aus. Sie spürt, wie sie kraftlos wird. Sein Gesicht verschwimmt immer mehr. Er packt die Bierflasche. Es gelingt ihm, sie ihr aus der Hand zu reißen. Sie schlägt ihm auf die Brust. Er grinst. Das erregt ihn. Er packt sie und hebt sie vom Boden. Sie zappelt, ihre Kraft reicht nicht aus, um sich zu befreien. Er trägt sie ins Schlafzimmer, legt sie aufs Bett und zieht ihr das Kleid vom Körper. Seine Hände zittern vor Begierde.

„Jonas. Ich will das nicht, bitte.“

„Sei still.“

Seine freundliche Art, die er in der Öffentlichkeit zur Schau stellt, verwandelt sich in etwas, das ihr Angst macht. Bei jedem Kleidungsstück, das er ihr auszieht, zieht sich ihre Brust mehr zusammen. Sie atmet schneller. Ihr Herz pocht. Seine Hände sind grob. Ihr Körper ist fest in seinem Griff. Sie kann nicht weg, ist gefangen, ihm unterworfen, entblößt. Er zieht sein Hemd aus, dann seine Hose. Tränen steigen in ihre Augen.

„Jonas. Bitte, hör auf!“

Ohne zu reagieren, schiebt er sich auf sie. Er betrachtet ihren Körper, scannt, ob sich irgendetwas zum Schlechteren verändert hat. Er scheint zufrieden, da er mit seinen Händen ihren Körper entlangfährt. Sie flüstert: „Bitte, Jonas, du tust mir weh.“

Jetzt packt er noch fester zu. Er spreizt ruckartig ihre Beine und dringt mit einem Grunzen in sie ein. Der Fremdkörper in ihr schmerzt. Sie kann nicht fliehen, die Tabletten haben sie zu sehr geschwächt. Bilder von Marks Haus steigen in ihr auf: Blut an ihren Händen, die verunstalteten Gesichter, die Schriftzüge. Sie kann kaum mehr atmen. Jonas beginnt zu stöhnen. Sie bekommt eine Hand frei, schlägt ihm ins Gesicht. Er packt sie und dreht sie auf den Bauch. Ihren Kopf drückt er ins Kissen. Er beugt sich zu ihr.

„Du bist ein Nichts. Nur weil ich bei dir bin, hast du irgendeinen Wert, verstanden? Jetzt zier dich nicht so.“

Sie nickt, alle Kraft weicht aus ihrem Körper. Hilflosigkeit, gegen die sie vergeblich ankämpft, breitet sich aus. Alles, was sie spürt, ist das rhythmische Stoßen seines Unterleibs. Alice nimmt es einfach nur hin. Doch das ist nicht das Schlimmste. Seine Worte schmerzen mehr als alles andere. Sie konzentriert sich auf die Wirkung des Diazepam, das sie von ihrem Körper wegtreibt. Dennoch kann sie nicht ausblenden, was mit ihr geschieht. Er liegt mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Sie droht zu ersticken, bekommt kaum noch Luft. Er stößt immer fester zu, keucht in ihr Ohr, schlägt ihr auf den Po und ergießt sich nach drei weiteren Grunzlauten in sie. Er keucht ein letztes Mal, dann legt er sich schweißgebadet neben sie.

Alice dreht sich zur Seite, sie fühlt sich wie ein nasser, benutzter Sack. Ihr Unterleib schmerzt. Die Stellen, an der er sie berührt hat, jucken. Sie will sich die Haut vom Leib kratzen. In ihrem Kopf baut sich Druck auf. Sie muss sich zurückhalten, sich nicht übergeben zu müssen. Kurz darauf steht sie auf und schleppt sich ins Bad. Im Spiegel erkennt sie seinen Handabdruck auf ihrem Gesäß. Sie blickt in ihre geröteten Augen. Sie ekelt sich vor sich selbst. Wut überkommt sie. Wie konnte sie nur so viel Selbsthass empfinden, dass sie ihn das mit sich hat machen lassen und sogar einen kleinen Funken Erregung gespürt hat?

Vor lauter Benommenheit ist Alice nicht bewusst, dass Tränen über ihr Gesicht laufen. Hinter ihr tritt Jonas ins Bad. Sie spannt jeden Muskel ihres Körpers an. Er blickt auf seinen Handabdruck, lächelt, registriert dann die Tränen auf ihrem Gesicht, sagt aber nichts. Er nimmt den Anblick als Bestätigung seiner Männlichkeit, so, als habe er seinen Job gut gemacht. So will sie sich nicht sehen. „Wo ist die toughe Alice geblieben?“, fragt sie sich, verloren zwischen Selbsthass, Tabletten und Alkohol.

Sie geht in die Küche, trinkt das angebrochene Bier. Ein bitterer Geschmack breitet sich in ihrem Mund aus. Der Schleier vor ihren Augen verstärkt sich. Sie sollte nach Hause gehen, bevor noch schlimmere Sachen geschehen, doch sie will Jonas nicht verärgern. Er hat das bekommen, was er wollte, vielleicht lässt er sie jetzt in Ruhe.

Alice leert die letzten Tropfen der Flasche, danach geht sie zurück ins Bett und dreht sich mit dem Rücken zu Jonas, der schon auf sie wartet. Sie presst ihr Gesicht in das Kissen und hofft, dass er sie in Ruhe lässt. Als sie kurz vor dem Einschlafen ist, merkt sie, wie sich Jonas Hand unter ihre Decke gräbt und von der Schulter hinab zur Hüfte gleitet. Erst zärtlich, dann immer gieriger. Jeder Berührung, mit der seine Hand ihren Körper berührt, ist ihr zuwider. Sie streift seine Hand ab. Er lässt nicht locker.

„Ich will nicht.“

„Was ist denn?“

„Lass mich in Ruhe.“

„Komm‘ schon.“

„Nein.“

Er packt fester zu. Sie weiß, er hat zu viel Kraft, als dass sie sich ihm widersetzen könnte. Sie stemmt sich gegen die Hilflosigkeit, die sich in ihr aufbaut.

„Jonas, du tust mir weh.“

 Sie schlägt erneut seine Hand beiseite und steht aus dem Bett auf.

„Wo willst du hin?“

„Weg von dir.“

„Du spinnst doch. Komm‘ wieder her.“

„Nein, dieses Mal nicht. Ich halte das nicht mehr aus.“

„Was hast du jetzt auf einmal? Leg‘ dich wieder zu mir.“

„Nein!“

„Mach‘ jetzt kein Theater.“ Jonas steht auf und geht auf sie zu.

Ihre Beine zittern. „Ich ertrag das nicht länger.“ Eine kurze Pause entsteht. „Ich verlasse dich.“

„Ha, dass ich nicht lache. Das sagst du jetzt. In einer Woche kommst du wieder angekrochen, weil du erkennst, wie erbärmlich dein Leben ohne mich ist. Genau so, wie das letzte Mal.“

„Du bist widerlich.“

„Sag das nochmal.“

„WIDERLICH.“

Jonas holt aus, verpasst ihr eine Ohrfeige. Er schlägt so fest zu, dass sie gegen den Kleiderschrank knallt. Ihr Gesicht fühlt sich taub an, schwarze Punkte tanzen vor ihren Augen.

„Niemand redet so mit mir. Vor allem nicht du. Was glaubst du, wer du bist?“

Alice hält schützend die Arme vor sich.

„Du bist diejenige, die widerlich ist. Schau dich an. Als du zu mir kamst, noch vor deinem Philipp, warst du ein Schatten deiner selbst. Ich habe dir geholfen, so zu werden, wie du jetzt bist. Denkst du nicht, ich habe eine Gegenleistung verdient?“

In Alices Hals bildet sich ein Knoten.

„Du enttäuscht mich“, fährt er fort. „Ohne mich bist du nichts.“

Er packt sie an den Armen, zieht sie ohne Mühe nach oben und wirft sie auf das Bett.

„Jetzt sei still und belohne mich dafür.“

Sie blickt in seine dunklen Augen. Ihr Gesicht ist immer noch taub, doch ihr Überlebensinstinkt meldet sich. Als er sich über sie beugt, bohrt sie ihre Fingernägel in sein Gesicht und kratzt ihn. Er schreit, rollt sich zur Seite.

Alice dreht sich um, kriecht aus dem Bett. Er streckt sich, hält sie an ihrem Fußgelenk. Für sie gibt es kein Entkommen. Er baut sich vor ihr auf, Blut tropft von seinem Gesicht. Er zieht sie zu sich, setzt sich auf sie. Dann legt er seine Hände um ihren Kehlkopf, blickt auf sie herab. Alice schnappt nach Luft, zappelt, verzieht das Gesicht. Als Jonas das sieht, fängt er an zu lachen, spukt ihr ins Gesicht und stößt sie von sich.

„Mit so einer dummen Schlampe verschwende ich keine Zeit mehr. Es gibt Frauen, die besser aussehen als du und nicht solche Zicken machen, wenn man Spaß mit ihnen haben will. Ich hätte es von Anfang an wissen müssen.“

Alice möchte weinen, doch diese Genugtuung will sie ihm nicht geben. Ihr Körper bebt vor Angst.

„Verschwinde. Und wenn du irgendjemandem davon erzählst, dann mach ich dich fertig.“ Mit seiner Faust schlägt er auf die Matratze.

Sie wirft sich ein Kleid über, nimmt ihre Sachen und stürzt im Eiltempo nach draußen. Als sie im Freien steht, brechen die Tränen aus ihr hervor. Sie sackt zu Boden und weint. Da keimt in ihr der Verdacht, dass Jonas sie beobachtet, wiederkommt und sie nochmals schlägt. Sie unterdrückt einen weiteren Weinkrampf, beißt sich in den Unterarm, steht auf und rennt. So weit, bis sie nicht mehr kann. Dann bleibt sie stehen, tastet ihr Gesicht ab und merkt, wie heiß ihre rechte Gesichtshälfte ist.

Seine Worte schmerzen mehr als die Ohrfeige oder der ungewollte Sex. Wie konnte sie nur wieder zu ihm zurück? Er hat sich nicht geändert. Das Gefühl der Hilflosigkeit wird immer stärker. Der herbe Duft von Jonas Parfum haftet an ihr. Das Adrenalin hat sie bis hierher gebracht, jetzt braucht sie eine weitere Diazepam, sonst bricht sie mitten auf der Straße zusammen. Sie atmet schwer, kramt zitternd in ihrer Handtasche und sucht nach der Tablette. In einer Seitentasche findet sie zwei, die sie schluckt. Der innere Druck nimmt langsam ab. In diesem Moment rückt sie ein Stück von sich weg. In ihrem Kopf steht sie vor einer Leinwand und beobachtet, wie ihr Selbst in Flammen aufgeht, Stück für Stück. Doch da ist noch etwas anderes. Bilder von Philipps Gesicht steigen in ihr auf. Er hätte so etwas nie getan. Auch, wenn er die Frauen entführt hat, zu ihr war er immer zärtlich.

Das erste Mal, als sie intim wurden, hatte sie geweint, nicht aus Angst oder Selbsthass wie gerade eben. Er schenkte ihr die Liebe, die sie sich nicht selbst geben konnte. Sie dachte oft an diesen Moment zurück, doch er schwindet immer mehr in ihrer Erinnerung. Sie atmet ein, nimmt den Geruch von modrigem Laub wahr und bleibt unter dem Lichtkegel einer Laterne stehen. Philipp hätte sie nie geschlagen. Nicht einmal, als sie ihn verraten hatte und ihm klar wurde, dass sie mit Mark zusammen arbeitete. Sie fühlt sich schuldig, doch noch mehr als das, vermisst sie das Gefühl, dass er ihr gegeben hat. Dann schießt ein Gedanke durch ihren Kopf. Dieses alte Gefühl, geliebt zu werden. Sie muss ihn sehen, um sich daran zu erinnern. Sie wird über ihren Schatten springen müssen, um ihn zu besuchen. Vielleicht hält sie es nur für eine gute Idee, weil sie betrunken und auf Tabletten ist. Wenn sie es jedoch nicht tut, wird sie in ihrem Selbsthass zu Grunde gehen.