Verlorene Jahre

Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit.

Andreas sitzt auf einer Parkbank vor dem Krankenhaus in Wangen, zu schwach, um aufzustehen. Es ist Februar, kalte Luft füllt seine Lungen, die sich wie mit Nadeln gefüllt, anfühlen. Die Stiche erinnern ihn daran, dass er noch am Leben ist. Seine Hände, sehnig und mit einer fleckigen Haut bespannt, zittern. Er sinniert über das Älterwerden, seinen stetigen Verfall, von dessen weiterem Verlauf er müde und überdrüssig ist. Seit seine Frau vor vier Monaten gestorben ist, geht es bergab mit ihm.

Obwohl er seit einem Jahr weiß, dass er Krebs hat, blieb er bisher von größeren Auswirkungen verschont. Eine seltene Form der Leukämie hat seinen Körper befallen, die die roten Blutkörperchen daran hindert Sauerstoff durch seinen Körper zu transportieren. Seine Aussichten sind deprimierend, irgendwann wird er keine Luft mehr bekommen und ersticken. Frei atmen konnte er bereits vor seinem Krankenhausaufenthalt nicht mehr, da sich zu viel Wasser in seiner Lunge befand. Die Ärzte hätten ihm Bluttransfusionen verabreichen können, wäre er denn dafür geeignet gewesen. Seine Blutwerte waren nicht lebensbedrohlich genug, obwohl er aufgrund des Sauerstoffmangels beim Bäcker wenige Stunden zuvor kollabiert ist. Die Ärzte wollten ihn im Krankenhaus einbehalten, was er ablehnte. Andreas will so schnell es geht, zurück in seine Wohnung. Er unterschrieb eine Verzichtserklärung in der stand, dass er selbst für seine Entlassung verantwortlich ist und verließ unter mahnenden Worten der Ärzte und Krankenschwestern das Gebäude.

Jetzt sitzt er auf dieser Bank und blickt in den neblig kühlen Nachmittag. Bis kurz nach dem Tod seiner Frau war niemand aus seiner Familie über den Krebs informiert, weder seine zwei Söhne, noch seine Enkelkinder, Schwester, oder Freunde, die über die Jahre immer weniger geworden sind. Bis vor wenigen Monaten hat ihn die Pflege seiner demenzkranken Frau am Leben gehalten, seit sie gestorben ist, fühlt er sich leer und unbrauchbar. Kurz nachdem sie ins Pflegeheim gekommen war, leistete er ihr immer Gesellschaft beim Abendessen. Jeden Tag war er an ihrer Seite, jeden Tag bewies er, dass er sie liebte und eben nicht akzeptierte, dass ihr Geist nach und nach verschwand. Er besuchte sie auch dann noch jeden Tag, als sie vor fünf Jahren seine Anwesenheit nicht mehr registrierte.

Andreas erinnert sich an ihr Kennenlernen. Ihre und seine Familie waren indirekt miteinander verwandt, seine Mutter war eine Cousine ihres Vaters. Dies war eine Sache, die er nie gerne zugab. Rechtlich stellte das kein Problem dar, gleichwohl war es ihm trotzdem unangenehm, was andere Leute über ihn denken könnten. Dabei war es im Westallgäu nicht unüblich, Verwandtschaft, die einem um ein Vielfaches näher stand, miteinander zu verheiraten.

Er versucht sich zurück zu erinnern. Er war dreiundzwanzig, sie zwanzig Jahre alt. Sie besuchte damals, zusammen mit ihrer Mutter, seine Familie, da er ihnen drei Tage zuvor einen Korb mit Äpfeln vorbei gebracht hatte. Als er in Scheidegg auf ihrer Türschwelle stand und ihrer Mutter die Äpfel in die Hand drückte, sah er sie nur aus dem Augenwinkel heraus, ja, er nahm sie gar nicht richtig wahr. Jetzt, als er sie in ihrer vollen Gestalt sah, nahm sein Herz einen Satz. Ein unbeschreibliches Gefühl, das er so schnell nicht wieder erleben wollte, hatte er doch gerade eine Beziehung hinter sich gebracht. Elfriede, Elfchen, oder Elfi, wie er sie später nannte, löste diese Gefühle, dieses Kribbeln in seinem Magen aus, dass sich über seinen ganzen Körper ausbreitete. Elfi, mit ihren kurzen, dunkelbraunen Haaren, einem schmalen, dennoch kräftigen kleinen Körper und einer Strenge in ihrem Ausdruck, der ihm mitteilte, dass sie allem gewachsen ist. Als sie ihm, so adrett mit braunem Rock und weißer Bluse, in der Stube gegenüber saß, gefiel sie ihm so gut, dass sie sich gleich am Wochenende zu einer Wanderung verabredeten. Er, seine Schwester, eine Freundin und Elfi.

Nachdem sie auf dem Gipfel des Berges standen und in das Tal hinunter blickten, wusste er intuitiv, dass sie die Eine für ihn war. Jetzt noch sieht er sie dort am Gipfelkreuz stehen, in einer aufrechten Haltung, ihren Blick in die Ferne gerichtet. Beklagten sich seine Schwester und deren Freundin über den Aufstieg, den er ausgesucht hatte, verlor Elfi kein Wort darüber und lief mit ihm vorweg den Berg hinauf. Am selben Abend gingen sie tanzen und diese warme Regung in seinem Bauch verstärkte sich weiter. Ein Gefühl, das damals noch in den Kinderschuhen steckte, dennoch ein Leben lang anhalten würde. Der Tanzabend war eine große Freude. Die gleiche Ausdauer, die sie beim Bergsteigen bewies, stellte sie jetzt auch beim Tanzen unter Beweis. Sie kamen sich näher, er konnte sie in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen anfassen, sie um sich wirbeln und ausgelassen mit ihr lachen. Und so geschah es, dass sie bald darauf ein Paar wurden.

Damals, vor über sechzig Jahren, wohnte er noch zuhause, schlief mit seinen zwei Brüdern in einem Zimmer, was es schwierig gestaltete, einen Platz nur für sie beide zu finden. Sie wussten, dass sie mit ihrer Zusammenkunft warten mussten. Auf der einen Seite machte es ihn traurig, auf der anderen freute er sich auf ein Leben mit ihr. Auf ein Kind, dem er für sich den Namen „Putzele“ gab und das sie ihm, schuldig war, ohne je danach zu fragen. Er wollte sie heiraten und setzt voraus, dass es auch ihr größter Wunsch war, ein gemeinsames Kind zu bekommen. Bis jetzt hatten sie nur ihre Wanderungen, auf denen sie sich, an den jeweiligen Gipfeln angekommen, küssten und sagten, wie sehr sie sich doch mochten. Es schien ihm damals unmöglich, sie nicht mehr bei sich zu haben, doch es kam der Tag im Frühling 1960, an dem sie sich unfreiwillig einer räumlichen Trennung unterzogen. Seine Elfi wurde von ihrer Firma aus für zwei Monate nach Bozen ins Südtirol geschickt. Sie sollte für ihre Arbeitsstätte, den Brautmodenhersteller Achberger, beim Aufbau einer Geschäftsstelle im Ausland mitarbeiten. Für Andreas war das die schlimmste Zeit, die er jemals in seinen jungen Jahren durchleben musste. Erst versuchte er, es Elfi auszureden, doch da ihr Chef darauf bestand und alles bereits organisiert war, blieb ihm keine andere Wahl, als es zu akzeptieren. An dem Tag, als sie ihn verließ, begleitete er sie zum Bahnhof in Bregenz und es kam ihm so vor, als wurde ein Stück Fleisch aus seinem Körper gerissen. Befürchtungen, er hätte sie zum letzten Mal gesehen, schlichen sich ein und vergifteten den Abschied. In seinem Kopf hörte er in Endlosschleife die Worte: „Mein Chef hat gesagt, wenn ich mich gut anstelle, können wir in Bozen vielleicht ein neues Leben anfangen, das wäre doch was. Ein Leben nur für uns.“ Sie war voller Vorfreude. Er voller Angst, weil seine Wurzeln hier waren. Angst, weil er Italiener nicht ausstehen konnte. Alles Fremde und Andersgeartete riefen eine Skepsis in ihm hervor, die ihn erstarren ließ.

Andreas wurde am 28. Februar 1937 geboren und war acht Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg endete. Fünfzehn Jahre später, war der Krieg bereits so lange her, dass nur übriggebliebene Kriegsveteranen, denen ein Bein oder Arm fehlten, die letzten offensichtlichen Spuren eines Krieges offenlegten. Viel war in dieser abgelegenen Ecke des Landes nicht passiert. Keine absichtlichen Bombenangriffe, nur zwei versehentliche Treffer: einer in der Nähe ihres Hofes, der andere in einem Moor in einer Nachbarstadt. Keine Gefechte, keine ernst zu nehmenden Hungersnöte. Der noch kindliche Andreas verstand den Einfluss dieses Krieges nicht, als die Alliierten Deutschland besiegten und damit den Krieg beendeten. Zu jung, um die Gräueltaten und Tragweite der – gelinde gesagt – fehlgeleiteten Annahmen der nationalsozialistischen Ideologie zu begreifen. Er konnte nur zusehen, wie seine Familie und die umliegenden Höfe nach dem Ende des Krieges ihre französischen Besatzer mit Lebensmitteln versorgen mussten und mehr litten als während des Krieges.

Trotz des Schreckes eines Krieges, den der Großteil der Menschen in dieser Gegend nicht führen musste und den abstrusen Sinn der Ansichten der Nazis nicht hinterfragend, hielten die Leute im Stillen an ihren fremdenfeindlichen, der Nazi Ideologie orientierten Überzeugungen fest. Es war, als hätte man sie ihnen so lange eingebläut, dass für sie nichts anderes mehr Sinn ergab. Ein unsichtbares Brandmal, das beinahe jeder von ihnen trug. Andreas Brandzeichen war so tief, dass er trotz des Wirtschaftsaufschwungs und der ungeahnten Möglichkeiten, die ihnen bereitstanden, sich weigerte seine gewohnte Umgebung zu verlassen. Er wollte, dass sich nichts verändert, alles in einem sich leicht zu verstehenden Konstrukt bewegt, das er und seine Mitmenschen zu dieser Zeit etablierten und noch bis heute einen Platz in so manchen Köpfen hat.

Als Elfi fort war, schrieb Andreas, so oft er konnte, Briefe an sie. Sie antwortete auf jeden sofort. Mindestens drei Mal pro Woche, zwei Seiten oder mehr. Zu dieser Zeit waren sie am verliebtesten und er hatte gleichzeitig am meisten Angst, sie zu verlieren. Deswegen schrieb er ihr auch, dass sie nicht mehr so weit fortgehen könne, was ihr missfiel. Sie hatte sich schon auf eine Zukunft in einem anderen Land gefreut, das ihr mehr Zukunftsaussichten bot als ihre Heimat.

Noch heute liest er hin und wieder in den Briefen, die er ihr damals geschickt hat. Am liebsten würde er die Briefe von Elfi an ihn nochmals lesen, diese hat sie jedoch vor Jahren, in ihrer aufkommenden Demenz, vernichtet. Andreas weiß nicht, ob es aufgrund ihrer Demenz war, oder ob das lähmende Gefühl des Bedauerns, an die Erinnerung auf ein anderes Leben, sie dazu veranlasst hat. Elfi hätte damals in Bozen bleiben können und für Andreas wäre gesorgt gewesen: einen Job als Mechaniker in einer Werkstatt, eine möblierte Wohnung. Andreas weigerte sich erbittert dagegen. Er hätte den Schoß seiner Familie und Heimat nie verlassen. Elfis Platz war auch hier, das wusste sie damals nur noch nicht.

Seine Schwester Frieda pflichtete dem bei. „Was sollst du dort? Du gehörst hier her. Und vor allem, was erlaubst sie sich eigentlich, das anzuzweifeln?“ Frieda war wie ein Schatten, der ihn verfolgte und die schützend leitende Hand über ihm und den Rest der Familie. Sie war die Älteste von vier Kindern: Andreas, der Jüngste. Er hatte noch zwei Brüder, die mittlerweile schon gestorben sind. Frieda nahm sich ihres Standes in der Familie das Recht heraus, sich permanent in andere Angelegenheiten einzumischen. Das störte ihn Zunehmens, je mehr Zeit er mit Elfi verbrachte. Einmal durchsuchte sie seine Matratze, um den Entwurf eines Briefes an Elfi zu finden, und las ihn. Als Andreas in das Zimmer trat, blickte sie nicht einmal vom Blatt auf, sondern überflog weiter die Zeilen. Als sie fertig war, drehte sie sich zu ihm und sagte: „Schreib noch dazu, dass ich sie grüße. Ich hoffe, sie kommt bald wieder. Schlimm genug, dass sie einfach nach Bozen gegangen ist. Ich an deiner Stelle hätte ihr das nicht durchgehen lassen. Wenn ihr einmal verheiratet seid, dann tanzt sie dir auch auf der Nase herum. Willst du das?“

In all seiner Liebe zu Elfi schüttelte er nur den Kopf. Frieda ging sogar so weit, dass sie im zweiten Brief, den er in dieser Woche an Elfi schrieb, darauf bestand, auch einen Absatz verfassen zu dürfen.

„Sie soll schon wissen, dass wir hier zwar auf dem Land leben, aber noch lange keine Faulpelze oder Dummköpfe sind“, sagte sie zu Andreas.

Also schrieb sie eine Seite seines kostbaren Briefes an Elfi mit ihrer krakelig unsauberen Schrift voll und zerstörte somit den Vertrag der Intimität, den sie beide durch ihren Briefwechsel miteinander geschlossen hatten. Andreas hatte damals keine andere Wahl, verweigerte er Frieda ihren Wunsch, hätte sie ihm das Leben zur Hölle gemacht. Sie kontrollierte ihre Eltern mitsamt seinen Brüdern und da er damals schmächtiger war, als seine Brüder, diese ihn immer wegen seines blonden Haares und dem Status des Muttersöhnchens veräppelten, wusste er sich nicht zu helfen. Ab diesem Zeitpunkt erkannte er, dass die Menschen um Frieda herum nur Spielfiguren für sie waren, die sie zu ihrem Vergnügen hin und herschob.

Andreas kehrt mit einem Teil seiner Gedanken wieder in die Gegenwart zurück und seufzt. Auch, wenn er Elfi damals so schrecklich vermisst hat, würde er alles dafür geben, um diese Ereignisse nochmals zu durchleben. Dennoch wird die Zeit nie wieder kommen und eine Ähnliche wird es für ihn nie mehr geben. Der Blick in die Vergangenheit ist alles, was er noch hat. Diese Erinnerungen treiben ihn in einen Warteraum zwischen Leben und Tod, in dem sich all die Sterbenden befinden.

Er streicht über seinen Kopf, berührt die Wunde, die sich wie ein kleiner schmerzender Ballon anfühlt. Er sollte zurück in seine Wohnung fahren. Fünfzehn Kilometer trennen die beiden voneinander. Er muss von seiner Bank vor dem Krankenhaus aufstehen, durch Wangen zum Parkplatz laufen, wo er sein Auto abgestellt hat, und losfahren. Früher wäre das kein Problem gewesen und auch, wenn sie ihm das Wasser aus der Lunge gesaugt haben, damit er leichter atmen kann, fühlt er sich nicht besser. Er steht auf und läuft auf wackeligen Beinen, langsam Richtung Stadt zu seinem Wagen.

Nach einer Stunde ist er zuhause. Er weiß nicht, wie er das geschafft hat. Während des Fahrens bemühte er sich, nicht erneut ohnmächtig zu werden. Jetzt liegt er im Bett, seinem bevorzugten Ort, seit er so schwach ist und denkt wieder an Elfi, die schon länger nicht mehr neben ihm liegt. Er schüttelt den Kopf, versucht dadurch den aufwallenden Schmerz zu vertreiben. Das klingelnde Telefon neben seinem Bett lässt ihn sein Leid vergessen. Er ahnt, wer anruft. Seit seine Familie um den Krebs weiß, kümmern sie sich um ihn, was ihn stört. Viel lieber würde er einfach hier liegen bleiben und nicht wieder aufstehen. Es ist nicht nur Schwäche, die ihn bei Sonnenschein ins Bett treibt, es ist eine Traurigkeit, die immer da war, die im Hintergrund mitschwingt und ihn erst jetzt in seiner Gänze lähmt.

„Hey Opa, wie geht es dir? Hast du heute schon was gegessen? Hast du genug getrunken?“, ertönt eine zarte Stimme aus dem Lautsprecher.

„Hallo Anne, ja, ich ...“, er zögert, spürt, dass es ihm trotz des Liegens immer schlechter geht. „Ich bin in Wangen gestürzt, ins Krankenhaus gekommen und wieder nach Hause ins Bett.“

„Aber warum das denn? Haben sie dich nicht da behalten wollen?“

„Nein, ... sie, ... es war kein schwerer Sturz, ich bin nur kurz umgekippt. Ich habe auf einmal keine Luft mehr bekommen.“

„Ich rufe gleich Tom an, der holt dich ab und ihr fahrt zurück ins Krankenhaus. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Das muss nicht sein, ich...“

Ehe er den Satz beenden kann, legt seine Schwiegertochter auf. Kurze Zeit später kommt ihn sein Sohn mit den Worten: „Wie schaust du denn aus?“, abholen und bringt ihn ins Krankenhaus, in dem er stationär aufgenommen wird. Die Wunde an seinem Kopf wird verbunden und er bekommt eine Bluttransfusion, da die Anzahl seiner roten Blutkörperchen nun einen kritischen Bereich erreicht hat. Ihm ist diese Prozedur zuwider, dieser Aufruhr um seine Person, aber er lässt es trotzdem über sich ergehen, denn mehr Widerstand als ein Kopfschütteln bekommt er nicht zustande.

Er verbringt einen Tag im Krankenhaus, bis sich seine Werte wieder stabilisiert haben. Tom holt ihn ab, bringt ihn zurück in seine Wohnung, in der er seit fünfundfünfzig Jahren lebt. Nach seinem Krankenhausaufenthalt bemerkt er, dass seine Klamotten lockerer sitzen als zuvor. Er blickt in den Spiegel und stellt fest, dass er ausgemergelt aussieht, als wäre er zehn Kilogramm leichter. Er schätzt, dass es das fehlende Wasser aus seinen Lungen sein muss. Zumindest kommt er sich nicht mehr so aufgedunsen vor. Er war nie übergewichtig, immer schlank und kräftig, konnte essen, was er wollte, ohne groß zuzunehmen. Noch im Winter zuvor, als er bereits von seinem Krebs wusste, befreite er ganz allein den Hof seiner Schwester vom Schnee. Da war er 85 Jahre alt. Nie hätte er gedacht, dass ihn das Alter auf diese Weise in die Knie zwingt. Er lebte in der Vorstellung, als wäre er unverwundbar, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Doch seine Appetitlosigkeit gepaart mit der Leukämie tragen Stück für Stück von ihm ab.

Andreas erträgt sein Spiegelbild nicht länger. Er wendet sich ab und ihm fällt ein, dass er den Ausflug noch nicht in sein Fahrtenbuch eingetragen hat, außerdem erscheint es ihm viel zu warm in seiner Wohnung. Zuerst reguliert er die Temperatur auf exakt 18,5 Grad, dann dokumentiert er seine Fahrt nach Wangen und wieder zurück in ein A6 Heft, dessen Seiten bis auf eine vollgeschrieben sind. Am Anfang war es nur ein Spiel, aus Interesse und Geiz, doch schon seit Jahren hat sich seine Marotte in einen Zwang verwandelt, der ihn beschäftigt und ihm Struktur gibt. Von Schwäche überwältigt, legt er sich wieder ins Bett. Er weiß, bald wird ein Teil seiner Familie wieder nach ihm sehen. Es ist kurz nach Mittag, als er einschläft.

Nach fünf Stunden reißen ihn die aufspringende Wohnungstür und Schritte im Flur aus seinem Schlaf. Andreas schreckt auf. Zunächst weiß er nicht, wo er ist, die Ereignisse des Tages mischen sich. Dann fällt ihm wieder ein, dass er sich in seinem Bett befindet. Er schlägt die Decke zurück, steht auf und tritt aus dem Zimmer. Drei Leute stehen vor ihm: sein Sohn mit seiner Frau und eine seiner Enkelinnen. „Ah, Hallo“, sagt er und versucht dabei überschwänglich freundlich zu sein, wirft die Hände vor seinen Körper und will sie grüßen, doch alle drei stehen mit starrer, unbeweglicher Mine da.

„Opa, so kann das nicht weiter gehen. Du kannst nicht einfach stürzen und dann wieder nach Hause fahren.“

Andreas nickt schuldbewusst, gelobt Besserung, isst unter ihren Augen ein Stück Brot mit Wurst und Käse, lässt sich von seinem Sohn den Verband am Kopf erneuern und legt sich, als sie wieder gegangen sind, zurück ins Bett. Er breitet den Arm auf die rechte Seite des Bettes aus, auf die er sich nicht zu liegen wagt, weil es die Seite von Elfi war. In seinem Schlafzimmer ist es kalt, die tristen braunen Schränke spenden keine Gemütlichkeit. Sein Magen schmerzt vom Brot, das ihm nicht geschmeckt hat, er aber essen musste, um seine Familie wieder vom Hals zu haben. Er bedauert nur noch Dinge, die er nicht mehr ändern kann. Zum Beispiel wie er noch vor einem Jahr ohne Anstrengung lange Strecken spazieren konnte, bis zu zehn Kilometer am Stück. Mittlerweile kostet ihn der Gang zur Haustür bereits beträchtliche Kraft. Sein Verfall schreitet schneller voran, als er verkraften kann.

Seine Appetitlosigkeit, gepaart mit der Unzufriedenheit über seine Situation, bringen seinen Körper dazu, weitere fünf Kilo in drei Wochen zu verlieren. Manchmal wird ihm schwindelig, wenn er vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, oder auf die Toilette geht. Einmal stürzt er, kommt jedoch mit blauen Knien und Hände davon. Das nächste Mal, kann er sich nicht mehr auf ein nebenstehendes Möbelstück, oder einen Stuhl retten, als ihm schwarz vor Augen wird. Er stürzt auf seine Hüfte, die mit einem dumpfen Knacken, wie das eines großen Astes, bricht. Als er am Boden liegt, verliert er sein Bewusstsein, bis sein Sohn Tom ihn mittags findet und den Krankenwagen ruft. An Andreas zieht das alles vorbei, wie im Traum. Gleichgültig nimmt er hin, dass er operiert werden soll.

Drei Tage muss er auf die Operation warten und bekommt bis dahin starke Schmerzmittel, die ihn in einen Dämmerzustand versetzten, in dem er weder sich, noch seine Trauer spüren muss. Am Tag vor der Operation, einem Sonntag, kommt ihn seine Familie innerhalb von drei Abständen besuchen: seine zwei Söhne, Tom und Arthur mit ihren Frauen, Anne und Martina, seine drei Enkel: Marius, Pia, Lena. Alle verstricken sich in nichtssagende Fragen, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. „Wie geht es dir? Was gab es heute zu essen? Wann wollen sie dich denn operieren? Hast du alles? Sollen wir dir noch ein Wasser einschenken? Bitte schau zu, dass du genug trinkst, ja?“

Sie verabschieden sich auf eine Weise, wie man einen Sterbenden verabschiedet, mit einer Schwere in ihren Augen, die ihre Blicke auf den Boden sinken lassen. Sterben kommt für ihn nicht in Frage, mit diesem Gedanken will er sich nicht beschäftigen. Sicherlich wird er das irgendwann einmal, doch nicht von solch einer lächerlichen Operation an seiner Hüfte und sicher nicht von diesem dubiosen Krebs, dessen genaue Bezeichnung er sich nie merken wird.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist und er vor lauter Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf gleitet, sieht er eine Projektion der jungen Elfi neben seinem Bett stehen und auf ihn herabblicken. Er streckt die Hand nach ihr aus, greift durch sie hindurch ins Leere. Andreas versucht es weiter. Bei jedem neuen Versuch rückt sie ein Stück weg. Als er aufwacht, fühlt es sich so an, als hätte man ein Glas Wasser auf seinem Kopfkissen verschüttet. Er dreht sich auf die andere Seite und versucht die Erinnerung an Elfi wieder aufleben zu lassen, so, wie sie vor der Demenz war, die ihren Geist und damit auch ihre Würde Jahr um Jahr mehr zersetzt hat. Wenn er jetzt versucht, sich an sie zu erinnern, denkt er nur an seine Frau kurz vor ihrem Tod, wie sie gekrümmt, den Kopf auf eine Seite verzogen, im Bett lag und mit offenem Mund an ihm vorbei starrte. Er versuchte etwas an ihrem Blick abzulesen, ohne Erfolg. Die einst so starke Frau, die ihn sein Leben lang begleitete, war längst nicht mehr da.

Immer wieder hoffte Andreas, sie würde gesund werden, eines Tages die Augen aufschlagen, ihn erkennen und einen Kuss auf seinen Mund drücken, doch dem war nicht so. Jedes mal vor einem Besuch wünschte er sich, dass sie es tat, einfach die Augen aufschlagen und ihn küssen und jedes weitere Mal wurde er enttäuscht und verfluchte seinen Gott dafür, dass er ihm das antat. Zu dieser Zeit erwischte er sich dabei, sich nicht mehr an die Zeit zu erinnern, als Elfi noch gesund war. Das gelang ihm nur, wenn er alte Fotos von ihr in den Händen hielt.

Acht Jahre vegetierte sie in einem Pflegeheim, spezialisiert auf Demenzerkrankung, dahin. Acht Jahre, in denen er ein eigenes Leben zu leben begann, in denen er lernen musste, für sich selbst zu sorgen. In denen er sich von Einladung zu Einladung hangelte, um nicht mehr allein zu sein und um Geld zu sparen, das er für einen Tag zusammenhielt, der niemals kam. Was ihn in dieser Zeit am meisten störte, war, dass er all sein Erspartes nicht mit seiner Elfi ausgeben konnte, sondern für einen Teil des Heimplatzes aufbringen musste. So stellte er einen Antrag auf Sozialhilfe, um sicher zu stellen, dass er weiterhin einen Anteil vom Staat für das Heim erhält, für das er andernfalls selbst hätte Aufkommen müssen. Er wollte nicht sein ganzes Geld für ein Heim verschwenden, das nicht imstande war, Elfi gesund zu machen. Sein Geiz war der Grund, warum er, Elfi und seine zwei Söhne all die Jahre auf ausgiebige Urlaube, teure Ausflüge und größere Anschaffungen verzichtet hatten. Die Ursache, warum es in seiner Wohnung im Winter nie über 18,5 Grad warm ist, er sein Brot zum halben Preis kauft und er beinahe jeden Tag der vergangenen Jahre, Salzkartoffeln mit Milch, Butter und einem winzigen Stück Käse gegessen hat. All das nahm er auf sich, weil es billig war und er nicht wollte, dass mit seinem schwindenden Vermögen all die Jahre der Plagerei und des Verzichts umsonst waren, die seinem Leben einen Sinn verlieh. Tränen rinnen an seinen Wangen hinunter auf die weiße Bettwäsche. Er verdeckt sein Gesicht mit der Decke, unterdrückt ein Schluchzen und schläft schließlich mit den quälenden Erinnerungen ein.

Im Laufe der nächsten Tage werden die zwei Patienten in seinem Zimmer, von denen er, auf Grund der Schmerzmittel, nichts mitbekommen hat, gegen zwei neue ausgetauscht. Sie sind zu dritt im Zimmer. Er, ein Mann namens Bert, und ein weiterer, ausgemergelter namens Adrian, der sich ebenfalls von einer Operation erholt und nicht viel spricht. Es ist März und ungewöhnlich warm, weshalb sie die Fenster öffnen, um die Wärme herein zu lassen, die den bevorstehenden Frühling erahnen lässt. Ein Duft erfüllt von Sonne, die auf Erde trifft, breitet sich im Raum aus. Bert, der neben ihm liegt und dessen Beine, aufgrund seines Diabetes, so dick wie die eines Babyelefanten sind, hat ebenfalls seine Frau verloren, was sie auf eine seltsame Weise verbindet. Bert, mit seinem rötlich grauen Bart und der kräftigen Statur, gleicht eher dem Körperbau eines Walrosses, als dem eines Menschen. Er klagt ebenfalls über Schmerzen, die ihn seit Jahren begleiten. Ehe ihn seine Tochter ins Krankenhaus einweisen ließ, konnte er gerade noch eine Flasche Weinbrand einstecken, die er nun Stolz präsentiert. Als er die Geschichte Andreas erzählt, spiegelt sich eine Art Freude in seinem Gesicht, die Andreas nur aus den Gesichtern von Kindern kennt.

Die drei schmieden einen Plan, dass sie ihre Medikamentenbecher aufheben und sich bis nach dem Abendessen gedulden, wenn die Krankenschwestern erfahrungsgemäß nur noch kurz vor 22 Uhr nach ihnen sehen. Nachdem ihre Teller vom Abendessen abgeräumt werden, setzten sie sich auf und Bert füllt die kleinen Plastikhütchen mit Weinbrand. Sie trinken fünf davon schnell hintereinander, nennen es ihre Happy Hour. Für sie ist es ein Akt der Rebellion, eine Sache, die sie tun, um es denen zu zeigen, die über sie entscheiden. Eine Form von Freiheit und Selbstbestimmung, die sie über die Jahre nach und nach an ihre Familien abgegeben haben.

Nach einer Woche wird Andreas aus dem Krankenhaus entlassen. Immer noch dünn und schwach, aber mit neuen Bluttransfusionen betankt. Seine Hüfte schmerzt nur noch beim Gehen. Erneut verweigert ihm sein Appetit aufgrund der mangelnden Bewegung den Dienst. Auch, wenn bei der Ankunft in seiner Wohnung klar ist, dass er nicht mehr in der Lage sein wird für sich selbst zu sorgen, geschweige denn einfache Dinge ohne Hilfe zu tun: zu duschen, sich anzuziehen, will er nicht wahrhaben, dass sich das nicht mehr ändert. Nun ist er vollends auf die Hilfe seiner Familie angewiesen. Vornweg sein Sohn Tom, der dreimal am Tag nach ihm sieht, sein Essen zubereitet, ihn wäscht und sich um das letzte bisschen Haushalt kümmert.

Als er ein weiteres Mal aufgrund seiner unzureichenden Flüssigkeitszufuhr und des mangelnden Sauerstoffs in seinem Blut ohnmächtig wird und stürzt, wird klar, dass er so nicht weitermachen kann. Sein Sohn Tom, der einen Pflegedienst besitzt, besorgt ihm ein spezielles Krankenbett. Es fällt ihm damit leichter, aufzustehen, bis er erneut das Bewusstsein verliert. Wieder hat sich so viel Wasser in seiner Lunge gesammelt, dass er kaum atmen kann. Andreas wird erneut ins Krankenhaus eingeliefert, in dem sie ihn an Schläuche anschließen: einen zum Absaugen des Wassers, den anderen zur Auffrischung seines Blutes. Er bleibt eine Nacht. Dieses Mal gibt es keinen Schnaps.

Wieder zuhause und in besserer Verfassung, muss Andreas feststellen, dass er nun endgültig zu schwach ist, ohne Hilfe aufzustehen und sich selbstständig in der Wohnung zu bewegen, was ihn zornig macht. Seine Oberarme sind inzwischen nicht mehr dicker als seine Handgelenke, seine Beine nur noch dünne Stelzen. Er findet es beschämend, wie ihn sein Körper nach all der Zeit im Stich lässt.

Er existiert nur noch, liegt da und wartet auf sein Ende. Eigentlich sollte ihm noch so viel durch den Kopf gehen, doch da ist nichts mehr, an was er denken könnte. Er fühlt sich leer und erschöpft, nichts weiter. Die Gedanken an Elfi verschwinden. An manchen Tagen kommt es ihm so vor, als hätte es ein Leben mit ihr nie gegeben. Die Tage verschwimmen ineinander und die Zeit, die er im Bett verbringt, weitet sich zu einem langen Tag aus, während dem er immer wieder einschläft. Sein Sohn Tom kümmert sich wie immer dreimal am Tag um ihn, seine Familie bringt ihm Essen, kommt vorbei, seine Enkel telefonieren mit ihm. Länger als zehn Minuten dauern die Gespräche jedoch nie. Seine Umgebung und die Geschehnisse um ihn nimmt er mit einer Art Gleichgültigkeit hin, die er vor seine Traurigkeit schiebt, welche sich letztlich in den Vordergrund drängt und sein Innerstes lähmt. Über ein Jahr seines Lebens verbrachte er im Warteraum zwischen Leben und Tod, in das ihn sein Krebs gesperrt hat. Einen Raum zwischen den Welten, in dem er es nur aushält, weil sein Blick auf die Tür am anderen Ende gerichtet ist, hinter der er hofft, seine Elfi wieder in die Arme schließen zu können, nach der er sich so sehr sehnt.

Am Montagvormittag, den 17.07. setzt sich Andreas nach seinem Frühstück, das aus der Hälfte eines Marmeladenbrots bestand im Bett auf, um nach einem Glas Wasser zu greifen. Er führt seine, unter dem Gewicht des Wassers, bebende Hand zu seinem Mund, als er vor sich die Erscheinung seiner Elfi erblickt. Sie steht still da, lächelt ihn an. Im ersten Moment erkennt er sie nicht, da es eine jüngere Version von ihr ist. Dann erinnert er sich. Es ist die Version von ihr, als sie damals den ersten Ausflug zusammen unternommen haben. Die Elfi, die beim Gipfelkreuz stand und in die Ferne blickte. Die Elfi, an die er für immer sein Herz verloren hat. Sie blickt an sich herunter, streicht ihre weiße Bluse glatt und zieht ihren dunkelbraunen Rock zurecht. Dann streckt sie die Hand nach ihm aus. Instinktiv weiß Andreas, was zu tun ist. Er stellt das Glas mit Wasser ab, versucht nach ihrer Hand zu greifen, schafft es zunächst jedoch nicht. Beim vierten Versuch berührt er sie endlich. Ein Gefühl von Frieden erfüllt ihn. Seine Trauer wie weggewischt. Er fühlt sich leicht und zugleich stark. Elfi lächelt ihn an, zieht ihn zu sich. Er steht auf und folgt ihr an das Ende des Warteraums, dessen Tür jetzt offen steht. Weiß-gelbes Licht benetzt in hellen Strahlen seinen Körper und verwandeln ihn in sein dreiundzwanzigjähriges Ich. Zusammen treten sie durch die Tür, verlassen das Wartezimmer und Andreas dieses Leben für immer.

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When I ceased to exist

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