Das Kino der Gefühle

Paul sitzt in einer Straßenbahn und klopft mit dem Kopf immer wieder gegen das verschmierte Fenster. In der Bahn herrscht Stille, lediglich das leise Surren des Motors ist zu hören. Die übrigen Fahrgäste starren alle ins Leere. Paul reibt sich die Augen, seine Linsen trägt er seit einer Woche nicht mehr. Erst jetzt fällt ihm auf, wie bescheuert die anderen dabei aussehen, wenn sie mit offenen Mündern in ihre Hologramme blicken. In der Bahn gibt es keinen freien Sitzplatz mehr. Paul nimmt einen tiefen Atemzug, hustet und blickt auf die Anzeige. Zehn Minuten noch bis zu seiner Haltestelle.

Ein Jahr musste er warten, bis er einen Platz im Kino für ihn und Sofia ergattern konnte. Wie ein Lauffeuer hat sich die Eröffnung in der Stadt herumgesprochen. Wenn er die Besucher dazu befragte, wollten diejenigen nichts darüber preisgeben. Sie erzählten ihm lediglich, er solle es selbst erfahren, dann werde er verstehen. Dies sagten sie mit einem Strahlen in den Augen, das er noch bei keinem Menschen zuvor bemerkt hatte.

Er richtet seinen Blick auf die Straße, beobachtet, wie Menschen in ihre Linsen blicken, einander ausweichen und gelegentlich zunicken. Alltag. In der Luft liegt Dunst, der sich um die Hochhäuser legt, sodass sie nur noch aussehen, wie kleine Quader, die von Menschen in grauen Gewändern umrundet werden.

Nach elf Minuten stoppt die Bahn an seiner Haltestelle. Paul schwingt sich aus seinem Sitz und quetscht sich an den anderen Personen vorbei durch die Tür. Acht Minuten später steht er vor einem großen Betonblock ohne Fenster. Als er das Gebäude betrachtet, kommt ihm Samuel in den Sinn, an dessen Büro er vorgestern vorbeigelaufen ist. Samuel hielt ein Foto in der Hand und weinte. Paul sah dabei zu, wie dieser das Gesicht in seinen Händen vergrub. So etwas hatte er noch nie gesehen, er erinnert sich lediglich an Erzählungen aus dem Geschichtsunterricht. Zunächst legte er seine Hand auf die Glasscheibe, wollte eintreten, um näher beim Geschehen zu sein, zog dann aber die Hand wieder zurück und lief weiter, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Bis jetzt. Paul fällt ein, dass Samuel auch in diesem Kino gewesen ist. Ein dumpfes Pochen breitet sich in seinem Magen aus, was ungefähr die schwindende Kraft einer verwelkten Blume besitzt. Dieses Gefühl, oder vielmehr dieser Eindruck – wie man heutzutage sagt – verschwindet innerhalb eines Wimpernschlags.

In den Bildungseinrichtungen, die er bisher besucht hat, erzählten sie ihnen, dass vor einhundert Jahren beinahe alles zusammenbrach. Eine gesellschaftliche Implosion aufgrund zu vieler Gefühle, die von allen Seiten, Tag für Tag unseren Organismus durchströmten. Waren unsere frühen Vorfahren noch wenigen Reizen ausgesetzt, so überfluteten die Sinneseindrücke die Menschen ein paar Jahrzehnte vor Pauls Generation. Dafür war das menschliche Hirn nicht konzipiert. Angstmache, Wut, Hass, Hetze, das nagende Gefühl, anderen unterlegen zu sein und das jeden Tag in einer nie dagewesenen Intensität.

Der menschliche Körper, unabhängig der Dauer von evolutionären Veränderungen, hat demnach die Verarbeitung und Ausdruck von Emotionen drastisch reduziert. Was der Homo sapiens in tausenden Jahren als Selektionsvorteil zum Bilden von komplexen Gemeinschaften entwickelte, zerfiel innerhalb von ein paar Generationen zu einem schrumpeligen Apfel. Gefühle und Emotionen sind auf ein Minimum reduziert, wobei Gefühle, die den sichtbaren Teil unserer Regungen abbilden, beinahe vollständig zum Erliegen gekommen sind. Emotionen sind immer noch vorhanden, befinden sich ausschließlich in der Tiefe des Unterbewusstseins, wohingegen unsere Triebe – trotz ihrer Stärke – vom rationalen Denken im Zaum gehalten werden. Hass, Angst, Wut, Liebe und Freude sind zu einer höflichen Abgestumpftheit verkommen, die die Menschheit trotz Lebensgemeinschaften und Partnerwechseln immer mehr vereinsamen lässt. Bis zu dem Tag, an dem die Kinos öffneten.

Paul hat im Internet gelesen, dass angeblich weitere im ganzen Land verteilt aufgetaucht sind, von denen keiner weiß, wer dafür verantwortlich ist. Er tritt von einem auf den anderen Fuß. In seiner Hand hält er eine dünne Zigarette, die er beinahe aufgeraucht hat. Das Gebäude hebt sich äußerlich nicht von seiner Umgebung ab, lediglich die fehlenden Fenster machen es zur Ausnahme. Der Wind streift durch sein schwarzes Haar. Er zieht den Kragen seines Mantels nach oben und erkennt in der Ferne eine schmale Frau, deren blonde Strähnen unter einer grünen Mütze hervor blitzen. Sie, den Blick auf den Boden gerichtet, einen dunkelblauen Schal um ihren Hals gewickelt, kommt in schnellen Schritten auf ihn zu. Obwohl sie lange Beine hat, macht sie kleine Schritte, was auf ihn so wirkt, als gehe sie noch schneller. Als sie vor ihm steht, zieht er ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnippt sie auf die Straße und begrüßt Sofia mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab, das von ihren Augen nicht erwidert wird.

„Wartest du schon lange?“

„Fünf Minuten. Wie war die Fahrt?“

„Gut. Nichts Außergewöhnliches passiert.“

„Noch sieben Minuten, sollen wir reingehen?“

Sofia nickt, dann treten beide durch die große verglaste Tür.

Das Foyer des Kinos besteht aus Beton und Glas. Erst jetzt fällt Paul auf, dass die Front zur Straße hin vollends verglast ist. Durch die Scheibe kann man zwar hinausblicken, aber nicht hineinsehen. Ihre Schritte hallen an den Wänden wider. Sie gehen weiter zu einem Durchlass, an dem Paul seine Reservierung scannt. Dann treten sie durch die sich öffnende Absperrung und blicken auf eine Traube Menschen vor einem roten Tor. Schilder geben zu verstehen, dass alle Linsen beim Eintreten ausgeschaltet und herausgenommen werden müssen. Paul und Sofia stellen sich an den Rand der Menge, in der sich nur die wenigstens unterhalten. Wie viele andere starrt Paul auf den geschliffenen Betonboden, in dem er sich wie in einem Spiegel betrachtet. Er sieht, wie Sofia ihre Mütze abnimmt, in ihrer Tasche verstaut und ein Etui zur Hand nimmt, in das sie ihre Linsen legt.

„Willst du deine gar nicht rausnehmen?“

„Ich trage keine mehr.“

Sofia legt kurz ihren Kopf schief, dann verstaut sie die Linsen. Seit einem Jahr sind sie ein Paar und über flüchtige Küsse und Händchenhalten nicht hinausgekommen. Auch wenn sie noch eine Art Reproduktionstrieb in sich tragen, haben sie davon noch nicht Gebrauch gemacht. In ihrer Generation schlafen nur diejenigen miteinander, die sich auch Kinder wünschen. In der Schule erzählte man ihm schon als Kind, dass es Epochen gab, in denen Sex aufgrund von Liebe und Spaß vollzogen wurde und der Grund der Fortpflanzung meist eine nebensächliche Rolle spielte. Schon damals rümpfte er die Nase und tut es heute immer noch. Wenn Paul jetzt daran denkt, wie sich Sofias lange Beine um ihn schlingen könnten, weiß er nicht, ob er jemals dazu in der Lage sein wird, falls sie überhaupt ein Kontingent für Nachwuchs erhalten.

Das Knacken eines Schlosses reißt ihn aus seinen Gedanken. Nach gesellschaftlich akzeptiertem Standard streckt Sofia ihre Hand nach ihm aus und sie gehen in den Saal, dessen Wände und Boden gänzlich aus abgeschliffenem Beton besteht, mit dem Unterschied, dass blaue Lichter an den Wänden befestigt sind. Das Kino bietet Platz für sechzig Menschen. Paul und Sofia gehen zur sechsten Reihe und setzen sich auf ihre Plätze, fünfzehn und sechzehn, die direkt in der Mitte liegen.

Als alle Platz genommen haben, schließt sich das Tor hinter ihnen und das Licht wird gedimmt. Auf der Leinwand erscheinen Instruktionen, die vor sich liegende Brille mit Kopfhörer aufzusetzen, dem sie sofort nachkommen. Zwei Minuten später ertönt ein schriller Ton. Paul bemerkt, wie sich eine Art dicke Decke um seine Arme, Oberkörper und Beine legt, welche eine Frauenstimme in seinen Kopfhörern als Gefühlsanzug beschreibt. Als der Anzug, seinen Körper umhüllt, taucht sein Sichtfeld in ein Schwarz ab und die selbe Stimme sagt: „Zu lange schon lebt ihr im Schatten. Willkommen im Kino der Gefühle.“

Paul atmet stoßweise ein und aus, gähnt, anschließend hört er eine durchdringende Frequenz, die seine Ohren zum Schwingen bringt. Es flimmert vor seinen Augen. Er wartet auf den Film, doch alles, was er sieht, ist sich selbst in Schwarz-Weiß, wie er mit einer Zigarette in der Hand eine Straße entlang geht. Zuerst sind dort keine Menschen. Nach und nach kreuzen Einzelne seinen Weg, bis es immer mehr werden. Alle scheinen in eine andere Richtung zu laufen. Wenn sie aneinander vorbeigehen, nicken sie sich zu. Frauen, Kinder, Alte, Junge, Männer als Frauen, Frauen als Männer. Sie alle steuern auf ihr eigenes Ziel zu. Paul muss sich anstrengen, sein Selbst nicht aus den Augen zu verlieren, es ist, als blicke er auf einen Ameisenhaufen. Seine Ansicht zoomt näher auf ihn und folgt seinem Haarschopf durch die Menge, der sich nicht berührenden Menschen, die alle wie in einer Kuppel aus Glas aneinander vorbei gleiten. Nach einer Weile gelangt seine Figur an den Rand des Treibens. Vor ihm erstreckt sich eine graue Klippe, die ins Schwarze führt. Er sieht Menschen, die wie verebbendes Wasser von der Klippe wegtreiben, ganz anders als sein Selbst, das jetzt auf die Klippe zusteuert, kurz vor dem Abgrund stoppt, noch ein letztes Mal an seiner Zigarette zieht und dann mit einem weiteren Schritt in die Tiefe fällt.

Sein Herz klopft, er krallt sich in die Armlehnen seines Stuhls, will aufschreien, dann steht er plötzlich auf einem Boot, aufwallendes Meer umgibt ihn. Je länger er auf das tosende Meer blickt, desto mehr spürt Paul den Wellengang. Er blickt sich um, bemerkt, dass er allein an der Reling auf dem Deck eines Fischerbootes steht. Fangnetze hängen an der Seite hinunter, doch er sieht keinen einzigen Fisch, geschweige denn jemand der zum Schiff gehört. Instinktiv geht er ans Steuerrad, spürt das abgeschliffene Holz zwischen seinen Handflächen. Wellen türmen sich vor ihm auf. Das Boot trotzt ihnen, Wasser spritzt an allen Seiten nach oben. Mit der Zeit spürt er ein Ziehen in der Magengrube, das intensiver als üblich ist. Eine Welle, so groß wie ein Hochhaus türmt sich vor ihm und dem Boot auf. Pauls Hände zittern. Er kann weder ausweichen noch durch sie hindurch fahren. Das Boot treibt weiter auf sie zu, er krallt sich ans Steuerrad. Das innerliche Ziehen verstärkt sich, eine Gänsehaut überkommt ihn und etwas hämmert von innen gegen seine Brust. Je weiter er auf die Welle zusteuert, desto höher fährt er auf ihr Richtung Wolkendecke und desto mehr befindet sich sein Boot in einer senkrechten Position. Schließlich erreicht er einen Moment, in dem er sich in Schwerelosigkeit befindet – nur für einen Augenblick – ehe die Welle über ihm zusammenbricht. Druck umgibt ihn. Er taucht erneut ab in das Schwarz.

Als der Druck um ihn nachlässt, steht er in einem Park. Wieder ist niemand zu sehen. Alles ist still. Dieses Mal ist etwas anders. Alles ist in die Farben des Herbstes getaucht. Er erkennt kleine Brücken und Teiche, Ahornbäume, die orange-gold und rot leuchten. Wenn er sich nicht täuscht, ist das der Central Park in New York, vor seiner Zerstörung. Paul kennt ihn nur von Bildern, doch jetzt hier zu stehen erfüllt ihn mit einer Art Leichtigkeit. Es ist nicht dieser gewohnte, sich dumpf und matt anfühlende Pinselstrich in seinem Innern, nein, es ist etwas Erhellendes. Er spürt, wie ein Grinsen in seinem Gesicht entsteht, das nach einigen Minuten zu schmerzen beginnt. Er geht den Weg vor sich entlang, um ihn herum, Pflanzen, die er so noch nie zuvor gesehen hat. An einem der Ahornbäume bleibt er stehen, hebt ein orangenes Blatt vom Boden auf, das sich wie ledriges Papier in seinen Händen anfühlt. Er streicht über seine Struktur, fühlt die vielen kleinen Adern und Unebenheiten. Als er das Blatt in den Händen hält, erscheint eine Frau in seinem Blickfeld, die dasselbe tut wie er. Er dreht sich zu ihr und geht auf sie zu. Nach ein paar Schritten erkennt er, dass es Sofia ist. Sie trägt ein hellblaues langes Kleid, ihr Haar ist offen und fällt über ihre Schultern. Sie geht ebenfalls auf ihn zu. Als sie voreinander stehen, sprechen sie kein Wort, sondern betrachten sich nur.

Paul sieht sie, ohne zu blinzeln an und als er seine Augen wieder schließt, gesellt sich ein anderes Gefühl zu der Freude in ihm. Diesmal ist es eine Wärme, ein Schauer, ein Kribbeln in seinem Bauch, das ihm bis in den Hals steigt. Es ist anders als alles, was er je empfunden hat. Sofia geht einen Schritt auf ihn zu. Das Prickeln verteilt sich wie feiner Regen in ihm. Sie greift nach seiner Hand, Sonne wärmt sein Gesicht. Alles ist so echt und unwirklich zugleich. Als sie ganz nah bei ihm steht und er ihren Atem auf seinem Gesicht spürt, berühren seine Lippen die ihren. Eine Explosion aus Stecknadeln, heiß, kalt-ziehende Euphorie steigen in ihm hoch und breiten sich in jeder Faser seines Körpers aus. Ihr Haar kitzelt sein Gesicht, ihre Lippen so weich wie Zuckerwatte. Sie löst sich von ihm, dann ertönt erneut eine Stimme: „Jetzt seht!“

Ein grell-gelbes Licht blendet ihn, dann wird es wieder schwarz.

Der Anzug samt Brille löst sich von seinem Körper, fast schon fordernd greift er nach Sofia neben ihm. Ihre Hand schmiegt sich in seine, ein erlösender Akt des Berührens, so als würde er das erste Mal ihre Hand halten. Er traut sich nicht zu ihr zu blicken. Alle Anwesenden starren jetzt auf die Leinwand, warten auf eine Erklärung, was mit ihnen geschehen ist, doch sie bleibt unbespielt. Alle sind still, warten, verarbeiten das, was in ihnen vorgeht. Keiner wagt es aufzustehen, denn sie alle scheinen zu wissen: es wäre der Schritt in ein neues Leben.

Die blauen Lichter an den Wänden erleuchten nun den Saal, Paul drückt Sofias Hand in der Hoffnung, sie nie wieder loslassen zu müssen. Im Publikum hört er ein paar Menschen weinen, auch er hat Tränen in den Augen. Er begreift mit einem Wimpernschlag, dass er all die Jahre auf Stand-by geschalten war, als habe ihm die ganze Zeit etwas auf der Brust gesessen, das jetzt verschwunden ist.

Er blickt zu Sofia, die mit gerötetem Gesicht neben ihm sitzt. Es liegt eine Zartheit in ihrem Gesicht, die er zuvor noch nicht wahrgenommen hat. Ein Schwall Glücksgefühle steigt in ihm auf, dann lässt er ihre Hand los. Sein Herz klopft, als er aufsteht, wohl wissend, dass es kein Zurück in ihre alten Leben gibt. Ein Tor neben der Leinwand öffnet sich. Er streckt erneut seine Hand nach Sofia aus, die sie ergreift. Paul weiß nicht, was sie gesehen hat, doch er ahnt, dass es ähnlich aufreibend war.

Sie sind die Ersten, die durch das rote Tor gehen. Sie gehen in kleinen Schritten, verschlingen ihre Hände so fest ineinander, um den Großteil ihrer Zweifel zu vertreiben. Der Gang durch den sie gehen ist lang und dunkel, an seinem Ende erkennen sie jedoch einen weiteren Saal, in dem roter Teppich ausgelegt ist. Als sie in ihm stehen, versinken ihre Schuhe im Teppich und der Duft vom heißen Wachs der Kerzen, die an den Wänden hängen, erfüllt sie. Die letzten Sonnenstrahlen des Abends fallen durch die Glasscheiben und sie sehen den vorbeilaufenden Menschen zu, die vor sich auf den Boden starren. Plötzlich ergreift Paul eine Ahnung, als würden er nicht mehr zur Außenwelt gehören. Er tritt einen Schritt auf Sofia zu. „Was hast du eigentlich gesehen?“

Sie zögert, blickt auf ihre Schuhe, dann wieder zu Paul. „Zunächst gar nichts, ich stand auf einer schwarzen Oberfläche, in der Ferne war eine weiße Tür, zu der ich hingerannt bin. Je schneller ich jedoch gelaufen bin, desto weiter hat sie sich von mir entfernt. Einmal war ich fast bei ihr, streckte meine Hand danach aus, dann verschwand sie und alles war schwarz.“

„Ich bin in einen Abgrund gefallen.“

„Dann war da der Park, in dem ich dich…“, sie wird rot, verdeckt das Gesicht mit ihrer Hand.

„Du trugst ein blaues Kleid, ich hatte ein Blatt in der Hand, glaube ich.“

Sofia nimmt ihre Hand vom Gesicht, weitet ihre Augen. „Wie kann das sein, woher wissen die?“

„Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Ich weiß nur, dass ich nicht...“

Sie legt ihre Hand auf seinen Mund. „Sprich es nicht aus.“

Paul wirkt jetzt verunsichert, realisiert, dass sie mehr Angst hat, als er und schüttelt den Kopf.

„Es tut mir leid“, sagt sie, zieht ihre Hand zurück und streicht durch seine schwarzen Locken. „Es ist nur, ich hab´ das Gefühl, dich zum ersten Mal richtig zu sehen, als hätte ich dich zuvor nur durch trübes Glas betrachtet.“ Ihre Augen leuchten im warmen Licht des Kronleuchters an der Decke. „Wenn du es aussprichst und wir zurück müssen, ist es vielleicht vorbei.“

Je länger er in ihre Augen blickt, desto mehr fällt ihm an ihr auf: ihre kleinen Fältchen, die sie hat, wenn sie lacht, der orangene Farbtupfer im Blau ihrer Augen. Der Drang, sie zu küssen, wird mit jeder Sekunde stärker. Sofia sagt nichts mehr, starrt nur auf seine Lippen. Auch, wenn Paul nie zuvor auf die Idee gekommen wäre, so zieht er jetzt Sofia zu sich heran, die ihre Hände in seinen Nacken fallen lässt und küsst sie. Alles um ihn herum scheint nicht existent zu sein. Es gibt nur noch sie beide. Das warme Licht, die Leute, die vom Kinosaal zu ihnen stoßen, sind unwichtig. Sofias weiche Lippen und der Druck ihres Körpers an seinem sind alles, was er wahrnimmt.

Als sie sich voneinander lösen, ist der Saal voll mit Menschen, die sich unterhalten, lachen, weinen und umarmen. Sofias Hand streicht über seine Wange, dann klammert sie sich an ihn und beginnt zu weinen. Für einen kurzen Augenblick kommt ihm Samuel in den Sinn, darauf drückt er sie fester an sich. Nachdem sich ein nasser Fleck auf seinem Pullover gebildet hat, setzen sie sich schweigend auf eines der braunen Ledersofas und beobachten weiter die anderen Leute, wie sie sich ebenfalls in den Armen liegen, miteinander scherzen und doch nach und nach den Saal durch eine graue Tür verlassen. Manche gehen mit einem Lächeln und zielgerichteten schnellen Schritten durch die Tür. Andere zögern, gehen zum Ausgang, drehen sich wieder um, um schließlich doch ganz langsam und mit Blicken zurück die Außenwelt zu betreten.

Sofia und Paul sehen jeder Person dabei zu und mit jeder weiteren werden sie unruhiger. Als die Letzten nach draußen gegangen sind, wendet sich Sofia zu Paul. „Denkst du, wir werden diesen Ort vergessen?“

Paul richtet sich auf, lässt seinen Blick im Raum umher wandern.

„Ich glaube schon, aber ich denke, was er in uns ausgelöst hat, bleibt.“

Kurz darauf stehen auch sie vor der Tür. Paul drückt die Türklinke nach unten und stößt die Tür auf. Es regnet. Sie gehen über die Schwelle des Gebäudes auf die Straße. Tropfen fallen auf ihre Haut. Für einen Moment halten sie inne. Als sie sich in die Augen sehen, wissen sie, dass sie es nicht vergessen haben; sie werden nicht nur nass, sie spüren all die unterdrückten Gefühle und Emotionen. Sofia zieht einen Regenschirm aus ihrer Tasche, öffnet ihn und hakt sich bei Paul unter. Arm in Arm entfernen sie sich vom Kino. Nach zwanzig Metern drehen sie sich um. Der Ausgang, der zuvor noch offen stand, ist verschwunden, doch die Gefühle in ihnen bleiben. Für immer.

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The cinema of emotions